Nachrichten vom Mars

■ 29 Künstler und Künstlerinnen aus Marseille zu Gast im Tacheles

Marseille hat das mieseste Image aller französischen Städte, obwohl es schon seit Jahren die Kriminalitätsstatistiken nicht mehr anführt. Daß die Stadt, die kurz und planetengleich »Mars« genannt wird, auch ein Ort schöpferischer Energie ist, zeigt sich nicht zuletzt an der lebhaften Rap-Szene (»HipHop« sagt in Frankreich kein Mensch). Die jungen MusikerInnen bekennen sich einerseits zu ihrer Kindheit in den Vororten von Marseille, andererseits zu ihren afrikanischen, arabischen oder asiatischen Wurzeln. Das offizielle Marseille versucht seit geraumer Zeit, sich vor allem durch Unterstützung und Anbindung junger KünstlerInnen und Künstlergruppen zu profilieren, und präsentiert ab heute auch in Berlin diese bessere Seite. Ein prall ausgepolstertes, je zu einem Drittel von Berlin, Marseille sowie dem Veranstaltungsort Tacheles finanziertes Programm wird bis 31.Mai Tanz und Musik, Videos, Installationen, Graphiken, Fotos, Malerei und Filme aneinanderreihen.

Die räumliche Außengestaltung übernimmt die Gruppe Lézard Plastic; sie bastelt schon seit Tagen am Gemäuer, hat einen riesenhaften, blau-weißen Fallschirm befestigt, den Außenbordmotoren in Bewegung halten sollen. Durch persönliche Kontakte angeregt, hat sich die Woche der »Jeunes createurs marseillais« inzwischen zum kulturpolitischen Ereignis aufgeblasen — der Berliner Kultursenator wiederholt, was der Kollege aus Marseille blumiger vorgab. Öffnung heiße die Parole: Marseille ist die Öffnung zum Mittelmeer, Berlin möchte jetzt ebenfalls offen sein? Daß Marseille auch eine rechte Hochburg ist und Berlin Gefahr läuft, eine zu werden, über diese Gemeinsamkeit verlieren die Herren kein Wort.

Die Überraschung aber ist das Programm: Das Tacheles wird fast ausschließlich von KünstlerInnen der Off-Kulturszene genutzt. Außer ihrem Wohnort haben sie nur eines gemeinsam: die meisten von ihnen sind nach 1955, viele sogar erst nach 1960 geboren. Drei Musikereignisse gehören dazu: die Horrorkitsch produzierenden Frauen von Belladonna 9CH und die rein männlichen Rock- Trios Emma Peel und Ferdinand et les philosophes. Die Belladonnas zweckentfremden alles, was sich zum Musikmachen oder Selbstinszenieren eignet. Saxophon, Dudelsack, Piano und Gitarre reichen nicht aus — eine komplette Kücheneinrichtung muß her, und gesungen wird auch, überdreht-komisch und schön-schnulzig. Emma Peel dagegen, Musiker aus dem Dunstkreis der Marseiller Phantasie-Rock-Band Leda Atomica, setzen trotz ungewöhnlicher Besetzung — eine Geige, zwei Gitarren, drei Stimmen — auf bewährte Muster, sind aber virtuose Instrumentalisten. Ferdinand et les philosophes machen rauhbeinig südfranzösische Rockballaden mit unerwarteten Stimmungswechseln. Die Philosophie kriecht unaufhaltsam aus den Texten des Gitarristen, Sängers und Leaders Ferdinand Richard hervor. Er ist seit 15 Jahren einer der wichtigsten Köpfe der französischen Rock- und Grenzgängerszene, und auch der älteste Künstler im Programm der »jungen Schöpfer«.

Die Tanzgruppe Zita La Nuit, deren Choreographin die junge Algerierin Chantal Tur ist, zeigt gleich zwei Stücke; Sonja Dicquemare, die 1989 mit dem Raumereignis »Brief einer blinden Stripteasetänzerin« für Aufmerksamkeit gesorgt hat, wird ihre Videoinstallation »Inréméabilis Error« vorstellen. Neben Ausstellungen und Bühnenereignissen wird sich Marseille aber auch als Filmstadt mit Vergangenheit und Zukunft stilisieren — zu sehen sind zehn Tage lang sowohl typische Hafenmilieu- und Marseille-Klassiker als auch aktuelle Kurzfilme. Anna-Bianca Krause

Noch bis zum 31. Mai im Tacheles, Oranienburger Straße