: „Ich sehe ihre regulierenden Maßnahmen nicht“
Russische Massenmedien klagen über Existenzbedrohung und unzulässige politische Pressionen auch in den „demokratischen Zeiten“ / Größtes Problem ist das fehlende Geld unter harten kapitalistischen Bedingungen ■ Von Klaus-Helge Donath
Ob es nun 417 oder sogar 418 Besucher waren, das wisse er nicht mehr so genau, es sei unübersichtlich gewesen, frotzelte der Berichterstatter der 'Iswestija‘ nach dem Pressefest der 'Prawda‘ vor wenigen Tagen. Früher zählte diese Festivität einmal zu den traditionellen Großereignissen im Moskauer Gorki-Park. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres stärkten die ohnehin enge Verbundenheit der Leser mit ihrem Blatt — das waren einmal über elf Millionen. Die 'Prawda‘ (Wahrheit) hat Leser lassen müssen. Viele. An die zehn Millionen. Zum ersten Mal in ihrem 80jährigen Bestehen sah sich das Flaggschiff des Kommunismus im März einer simplen, nicht interpretierbaren Wahrheit ausgesetzt. Es fehlte das Geld. So stellte sie ihr Erscheinen ein. Nicht ohne Zeter und Mordio zu schreien: Die „Demokratie“ — gemeint waren damit die veränderten politischen Bedingungen in Rußland— habe ihr das Wasser abgegraben. Eines Tages — am Morgen der Eröffnung des Volksdeputiertenkongresses war sie dann wieder da: mit Lenin links oben in der Ecke. Wer ihr finanziell das Comeback ermöglicht hat, bleibt „Geschäftsgeheimnis“. Dafür muß unter den neuen „kapitalistischen Bedingungen“ jeder Verständnis aufbringen. Die Abertausenden von Leserspenden, treue Pensionäre zumeist, die ihr Letztes gaben, um weiterhin in den Besitz der Wahrheit zu gelangen, werden den Kohl nicht fett gemacht haben. Auch wenn die Redaktion sich redlich um diesen Eindruck bemühte. Kurzum: Die 'Prawda‘ ist zurück mit einer Auflage um eine Million, die realistisch sein dürfte, aber vor allem mit einer klaren Zielsetzung. Sie ist ein ausgewiesenes Medium der Opposition. Keiner zwingt sie mehr zum Gorbatschowschen Spagat.
Abopreise sind im Keller
Der Korrespondent der 'Iswestija‘, der nach der Prawda wohl bekanntesten sowjetischen Zeitung hat nur scheinbar gut Lachen. Auch das ehemalige Organ des Obersten Sowjets ringt mit den neuen Rahmenbedingungen. Die Kosten für Papier und Druck sind um ein Vielfaches gestiegen, die Abonnementpreise stammen dagegen noch aus dem letzten Jahr. Nach wie vor hält der Staat das Monopol für Papier, Druckerschwärze und Vertrieb in seiner Hand. Subventionen — zumindest offizielle — aus Partei- oder Staatskassen fielen flach. Die 'Iswestija‘ reagierte auf die neuen Anforderungen, indem sie zwei Drittel ihrer Auslandskorrespondenten zurückbeorderte. Von ehemals 36 sind es noch ganze zwölf. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, nachdem die Außenhandelsbank alle Valutakonten gesperrt hatte. Ein Teil fand Platz in der Zentralredaktion, der andere ging. Sergej Guck, langjähriger Auslandsredakteur, meint offenherzig: „Die Arbeit ist nur noch etwas für Enthusiasten.“
Die 'Iswestija‘ hatte sich schon während der Perestroika ein veritables Image verschafft und sich verhältnismäßig früh von parteilicher und administrativer Gängelei frei gemacht. Im Unterschied auch zu den neuen „demokratischen“ Publikationen gelang es ihr, zwischen Information und Kommentierung zu trennen. Ein für die russische — auch vorrevolutionäre — Presselandschaft bemerkenswertes Novum. „Prestige ist das eine, Geld das andere“, kommentiert Guck lakonisch. Wie dringend die Zeitung Geld benötigt, zeigt eine Annonce auf der Titelseite prominent plaziert: „Australischer Bürger sucht dringend Moskauer Braut.“ Das Gemetzel in Nagorny-Karabach fand in einer Seitenspalte statt. „Hier weiß keiner, wie es weitergeht“, so sein Fazit. Doch noch erscheint sie in einer Auflage von 2,8 Millionen.
Je geringer die Auflage desto besser
Ein Paradox tut sich auf: je niedriger die Auflage, desto geringer die finanzielle Belastung. Alle Zeitungen haben in den letzten Monaten Leser verloren. Mannigfaltige Gründe finden sich dafür. Von der allgemeinen Politikmüdigkeit bis zum inflationären Angebot unterschiedlichster Medien. Ein ganz entscheidender aber sind die Preise, die während der Subskriptionszeit von September bis Dezember letzten Jahres festgesetzt und vorab vom staatlichen Monopolbetrieb „Rospetschatj“ eingetrieben wurden. Für den Vertrieb soll das Unternehmen mehr verlangen als der Flugmonopolist „Aeroflot“ für die Beförderung von Passagieren. Schon damals hatte sich der Bezugspreis zum Vorjahr erheblich verteuert. Ein Exemplar der Gewerkschaftszeitung 'trud‘, die in ihrer Blütezeit auf 21 Millionen kam, wurde ursprünglich mit neun Kopeken pro Exemplar berechnet. Seit Januar, nach Freigabe der Preise und Einführung einer 28prozentigen Mehrwertsteuer, kostet es bereits 72 Kopeken. Den Lesern war sie damals schon zu teuer. Zum Glück, würde ihr stellvertretender Chefredakteur heute sagen, denn „weniger Leser bedeutet auch weniger Kopfschmerzen“. Täglich fährt 'trud‘ drei Millionen Rubel Verlust ein. Ideal wäre eine endgültige Auflage um eine Million.
Alle Blätter reagieren gleichermaßen. Sie bauen Personal ab, schränken den Umfang ein oder erscheinen seltener. Sorgenfrei lebt nur die 'Rossiskaja Gaseta‘, das bieder gemachte Sprachrohr des russischen Parlamentes. Um konkurrenzfähig zu sein, erhielt es Subventionen von 273 Millionen Rubel für das laufende Jahr.
Kriegserklärung gegen den Staat
Ob bezuschußt oder nicht — auch die neuen Politiker können sich von alten Gewohnheiten nicht freimachen. Aus vielen Redaktionen kommen Klagen, noch immer wollten die maßgeblichen Leute auf Redaktionspolitik Einfluß nehmen. Manchmal verlangten sie dreist die Veröffentlichung irgendwelcher „Sonderwünsche“. Zu den notorischen Nörglern gehört der Vorsitzende des russischen Parlamentes Chasbulatow. Kritische Berichterstattung bewegte ihn zu der Feststellung, die „Medien befänden sich mit dem Staat im Kriegszustand“. Den Vorsitzenden der parlamentarischen Medienkommission herrschte er an, dagegen unverzüglich vorzugehen: „Genosse Bragin, was machen Sie eigentlich. Ich sehe ihre regulierenden Maßnahmen nicht?“ Von solchen Eingriffen verschont bleiben nur Zeitungen, die von Anfang an unabhängig waren, wie der 'Kommersant‘ oder die 'Nesawissimaja Gaseta‘. Doch ihr Radius reicht kaum über Moskau hinaus. Beim Fernsehen befürchtet der Redakteur der Nachrichtensendung „Vesti“ im russischen Kanal, Jurij Rostow, längerfristig auch wieder eine „Eingemeindung“. Letztes Jahr wurde der russische Sender als Gegengewicht zum konservativen Unions TV aus der Taufe gehoben. Bis heute laufen beide Programme parallel. Obwohl Jelzin per Dekret dem russischen Fernsehen Mittel zugeschustert hat, fehlt es dort am Elementarsten. Der Kampf um die Besitzansprüche ist im vollen Gange. Geld für eigenständige Auslandsberichte fehlt fast völlig. Die meisten Beiträge sind Mitschnitte von CNN. Russische Journalisten neigen häufiger zum Pessimismus, schnell taucht da mal das Gespenst der Kontrolle auf. Und das negative Erbgut der Politiker, ein Medium als ihren Hausanzeiger zu betrachten, ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Wenn wieder eine Gleichschaltung droht, sind daran aber eher die Finanzen schuld als der primäre Wunsch nach Kontrolle.
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