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Spitzeldienste in der Mocca-Bar

■ SPD-Bürgermeisterin von Hellersdorf arbeitete während des Studiums für die Stasi/ Momper: »Minderschwerer Fall«/ CDU: Vorgang verschleppt

Berlin. Zwei Tage nachdem die SPD in Hellersdorf wieder zur zweitstärksten Partei in der Bezirksverordnetenversammlung gewählt worden war, offenbarte die Spitzenkandidatin Marlitt Köhnke ihren Genossen, daß sie in ihrer Jugend für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig war. Am Dienstag abend unterrichtete sie die Kreisvollversammlung ihrer Partei über die Erkenntnisse, die in der Gauck-Behörde über sie zusammengetragen worden sind. Danach verpflichtete sie sich einen Tag vor ihrem achtzehnten Geburtstag als Inoffizielle Mitarbeiterin und fertigte von 1970 bis 1974 Berichte »über Personen, die in der Mocca- Milch-Eisbar verkehrten, die durch Ausländerkontakte auffielen«.

Die Mocca-Milch-Eisbar war zur damaligen Zeit ein beliebter Treffpunkt von Oberschülern und Studenten, unter denen die Stasi auch »negative Jugendliche« vermutete. Die Aufgabe der Schülerin Marlitt Köhnke bestand in der »Benennung entsprechender Personen, deren Beschreibung und zum Teil Einschätzung«. Sie hat, nach Meinung ihres Führungsoffiziers, »ehrlich berichtet« und »objektive Einschätzungen zu den interessierenden Personen« gegeben; allerdings kritisierte er, daß »besonderer Eifer, besondere Einsatzbereitschaft oder besonderes Interesse in der Auftragserfüllung des IMV nicht sichtbar« war.

Als sie Studentin an der Humboldt-Universität war, wurde sie beauftragt, für soziologische Forschungen Interviews zu machen und interessante Ergebnisse an die Stasi weiterzugeben. Die Gauck-Behörde kommt zu der Einschätzung, daß dabei »direkte Denunziationen« nicht erkennbar waren.

Frau Köhnke selbst hat an diese »schlimmen Verstrickungen« nur noch »bruchstückhafte Erinnerungen«. Um Klarheit zu erhalten, beantragte sie im Februar dieses Jahres ihre Überprüfung durch die Gauck- Behörde, denn sie »wollte als Spitzenkandidatin nicht antreten, ohne zu wissen, was gewesen ist«. Sie ist Gründungsmitglied der SPD in Hellersdorf und seit 1990 Bürgermeisterin des Bezirkes. Für dieses Amt wollte sie sich erneut bewerben. Am 13. April ging das Antwortschreiben der Gauck-Behörde bei der Fraktionsvorsitzenden der SPD in der BVV ein. Diese war, so der Hellersdorfer Kreisvorsitzende Frank Uhlich, zu dieser Zeit in Urlaub gewesen, so daß der Ehrenrat der Partei erst zwölf Tage später einberufen wurde.

Am 11. Mai stellte Frau Köhnke den Antrag auf Akteneinsicht, die ihr Ende der vergangenen Woche gewährt wurde. Frau Köhnke verwahrte sich gestern gegen den Vorwurf der CDU, der Vorgang sei bis nach dem Wahltag verschleppt worden; es wäre »unverantwortlich gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen, bevor die Partei informiert worden sei«. Der SPD-Landesvorsitzende Walter Momper bedauerte den Ablauf, seiner Einschätzung nach sei es aber nicht anders gegangen. Bevor man an die Öffentlichkeit gehe, habe erst der Sachverhalt aufgeklärt werden müssen.

Die Hellersdorfer Kreisvollversammlung beriet am Montag abend viereinhalb Stunden über den Fall, und sprach schließlich mit 60 Prozent der Stimmen Frau Köhnke als Spitzenkandidatin das Vertrauen aus. Es dürfe, so Uhlich, keine Hexenjagd geben auf Täter, die Opfer waren.

Auch Momper, der an der Versammlung teilnahm, befand, daß »ein solch minderschwerer Fall« einem nicht ewig nachlaufen dürfe. Das menschliche Gedächtnis habe nun mal die Eigenschaft, unangenehme Dinge zu vergessen. Wenn Frau Köhnke erneut für das Bürgermeisteramt kandidieren will, muß sie davon allerdings auch das Bündnis 90/ Grüne und die CDU überzeugen, sonst könnte sie nur mit den Stimmen der PDS gewählt werden. Dieter Rulff

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