: Berlin — eine verschlafene Provinzstadt
■ Dokumentation: Der Berliner Korrespondent der »Neuen Zürcher Zeitung«, Eric Geiger, betrachtet die neue Befindlichkeit der Berliner und ihren Kulturkampf zwischen Metropole und »Posemuckel«
Zweieinhalb Jahre nach der Öffnung der Mauer ist von der Euphorie des Novembers 1989 in Berlin nicht mehr viel zu verspüren. Während damals der Regierende Bürgermeister Momper seine Landsleute als das glücklichste Volk der Welt apostrophierte, hat sich heute über die Stadt mit ihren mehr als drei Millionen Einwohnern eine nörgelnde Unzufriedenheit gelegt. Den Ostberlinern, die nur die ehemalige Sektorengrenze passieren müssen, um die Welt eines saturierten Wohlstandes zu erleben, geht die vielbeschworene Angleichung der Lebensverhältnisse nicht schnell genug.
Die Westberliner, die die Vereinigung aus den Nöten und Annehmlichkeiten der Inselexistenz riß, spüren die mit materiellen Einbußen verbundene Unbequemlichkeit des Aufbaus, dessen weitere Schritte noch nicht recht erkennbar sind. Diese Orientierungslosigkeit schlägt sich nieder in einer Diskussion, die in der bangen Frage gipfelt: Ist Berlin verschlafene Provinz?
Ein solche Frage löste, in Rom oder Paris gestellt, bestenfalls Unverständnis oder Kopfschütteln aus. In Berlin wird sie zum Gegenstand mit Inbrunst geführter Kontroversen. Jedes kommunalpolitische Malheur des an Mißgeschicken allerdings nicht armen Senats versammelt einen Chor von Kritikern, die mit schneidener Häme »Posemuckel, Posemuckel« intonieren.
Das Mittelmaß als Misere
Der mysteriöse Ort, einst ein westpreußischer Marktflecken und heute die Inkarnation eines nördlichen Seldwyla, scheint in der märkischen Metropole allgegenwärtig. Wenn die Regierung des Stadtstaats eine groß verkündete Gedenkfeier für Marlene Dietrich kleinlaut absagen muß, wenn die Lokalpolitik vorzugsweise um die eine Frage kreist, ob das Brandenburger Tor für den Verkehr geöffnet wird — dann bezichtigen sich die Berliner mit wohligem Schauer des Provinzlertums. Stünde John F. Kennedy in diesen Tagen auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses, so riefe er aus: »Ich bin ein Posemuckler!«
Dem Außenstehenden, der in Berlin die künftige Hauptstadt und die kulturelle Metropole sieht, erscheint die Diskussion befremdlich. Die Berliner hingegen verspüren die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität, in der die Kommune erst ganz allmählich in die ihr zugedachte Rolle wachsen kann. Denn die Berliner nehmen spätestens seit dem Umzugsentscheid für Regierung und Parlament in der ihr eigenen Bescheidenheit in Anspruch, nicht nur ein, sondern eben das Zentrum in Deutschland zu sein.
Kehrseite des Wehklagens über die Provinz ist das Beharren auf der eigenen Bedeutung. Keine Worte fallen derzeit öfter als die Begriffe Hauptstadt und Metropole — gemäß der Devise, daß man über nichts häufiger redet als über das, was man noch nicht hat oder ist. Der noch ungedeckte Wechsel auf die Zukunft verbindet sich mit Reminiszenzen an die Vergangenheit, als das Berlin der zwanziger Jahre zum Sinnbild überschäumender Urbanität wurde. Doch davon ist die von Weltkrieg und Teilung gezeichnete Stadt weit entfernt.
Auch Westberlin hinkt hinter der Infrastruktur und dem Wohlstand der alten Bundesrepublik her. In den Eliten von Kultur, Wirtschaft und Politik ist in den Jahren der Isolation Mittelmaß eingezogen, das heute zwischen trotzigem Wir-Gefühl und Minderwertigkeitskomplex schwankt.
An den verblichenen Glanz anzuknüpfen, fällt der Stadt schwer; das alte, atemlos pulsierende Berlin ist unwiederbringlich dahin und lebt nur noch als Mythos im Feuilleton. Nie mehr wird es aller Voraussicht nach in Deutschland eine derart singuläre Stellung einnehmen. Inzwischen haben Städte wie Hamburg, München oder Köln einen höheren Stellenwert gewonnen, den sie, mit erheblichen Finanzmitteln ausgestattet und von dem in der Bundesrepublik fest etablierten Föderalismus profitierend, wohl nicht mehr einbüßen werden.
Eine überflüssige Stadt?
In seiner Vergangenheit mußte sich Berlin nach großen Umbrüchen mehrmals gleichsam neu erfinden, wo andere Städte in ihren Traditionen sicher ruhen. So ging die altpreußische Residenz zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter, explodierte dann förmlich als Wirtschaftsmetropole und Hauptstadt des kleindeutschen Kaiserreichs und stand schließlich vor der tiefsten Zäsur seiner 750-jährigen Geschichte.
Seit der Wiedervereinigung sucht Berlin abermals eine neue Aufgabe. Doch das in den Jahren der Zweistaatlichkeit gleichermaßen aus dem Zentralhaushalt alimentierte Ost- wie Westberlin stellt fest, daß es in der neuen Bundesrepublik eigentlich »überflüssig« ist. Längst haben andere Städte wirtschaftliche und kulturelle Funktionen des Vorkriegsberlins übernommen — und eine Hauptstadt, von der man sich nur schwer trennen mag, hat die zweite Republik inzwischen in Form jenes rheinischen Posemuckels ebenfalls. Geblieben sind der Stadt erhebliche soziale Spannungen, die durch den Gegensatz von Ost- und Westberlin verschärft werden, ferner aus der Vorkriegszeit eine Eigenschaft, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ungewollt wieder an Aktualität gewinnt: Berlin zieht magnetisch Menschen aus Osteuropa an, deren gelobte Neue Welt im Prenzlauer Berg beginnt. Ein Gutteil der aufgeregten Diskussion resultiert aus der Furcht, im Wettbewerb der Kommunen keinen aus eigener Kraft wirtschaftlich tragfähigen Platz zu finden.
Der Berliner liebt es, seine Stadt — und sich — mit Superlativen zu beschreiben. Stammen die großen Worte hingegen aus dem Munde anderer, zieht er sie mit unwirschem Kommentar in Zweifel. Auswärtige und Berufsberliner pflegen dies »Berliner Schnauze« zu nennen. Einen Superlativ kann die Stadt in der Provinzdebatte mit Fug für sich in Anspruch nehmen. Berlin ist und bleibt der Mark Brandenburg größtes Dorf zwischen Bernau und Königs Wusterhausen.
Erschienen am 28./29. Mai in der 'Neuen Zürcher Zeitung‘
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