: Straffreiheit für die Waffenbrüder von einst
■ Ein Geheimpapier der ehemaligen DDR-Militärjustiz beweist, daß Straftaten sowjetischer Soldaten in der Mehrzahl der Fälle nicht verfolgt wurden/ Rechtsbrüche wurden intern disziplinarisch geahndet/ Kaum Veränderung nach Einigung
Berlin. Nummer 1409/89 hatte keine Chance — Schädel gespalten, Lunge gequetscht — »Durchgangssyndrom«, wie es im medizinischen Befund hieß. Der Unfalltod des namenlosen Ostdeutschen ging auf das Konto von in der DDR stationierter Sowjettruppen. Gesühnt wurde er nie, wie es in einem Geheimpapier ostdeutscher Militärstaatsanwälte heißt. Der insgesamt eher zurückhaltend formulierte Bericht schien den Verantwortlichen im März 1990 dennoch so heikel zu sein, daß er bis zum vollständigen Abzug der Sowjettruppen wieder in der Schublade verschwinden sollte. Fest steht heute, daß der Inhalt frühzeitig auch dem russischen Oberkommando in Wünsdorf bei Berlin bekannt war. Seine Veröffentlichung »im Geiste des Kalten Krieges« diene nicht der »Festigung des gegenseitigen Verständnisses«, protestierte damals vorab das Pressezentrum der Burlakow-Armee.
Die tödlichen Wunden von 1409/89 waren für die sowjetischen Verantwortlichen lediglich »geringfügige Verletzungen« — eine Definition, die nach Paragraph 10 der russischen Strafprozeßordnung kein Ermittlungsverfahren nach sich zog. 1989 wendeten die Sowjets diese Fehlkonstruktion noch auf 35 weitere Unfälle an, deren Opfer lange Zeit stationär behandelt und einige zu Invaliden wurden. Die DDR-Behörden hatten gegen die »abschließende Entscheidung« der Sowjets keine juristische Handhabe. An ihnen blieb vielmehr die Aufgabe hängen, das Ergebnis Geschädigten oder Hinterbliebenen beizubringen. Um »größeren Unmut unter der Bevölkerung« zu vermeiden, streckte die staatliche DDR-Versicherung auftragsgemäß auch Entschädigungen vor, selbst wenn die Sowjets — was häufig geschah — nichts zurückzahlten.
Mehr als zwei Drittel der 108 schweren Verkehrsunfälle blieben 1989 laut Bericht »ohne strafrechtliche Sanktion«. Nach Artikel 6 des Stationierungsabkommens stand die »Entscheidung über alle Arten von Verkehrsunfällen, die in Ausübung des Dienstes auftreten, allein den sowjetischen Organen« zu. Die DDR- Militärjustiz feierte es schon als »Ausdruck einer gefestigten Zusammenarbeit«, wenn zaghafter Einspruch überhaupt geduldet und im Einzelfall noch einmal die »Schuldfrage geprüft« wurde. Vermeintliche Gleichwertigkeit erzielte man nur in einem einzigen Streit, bei dem es um den Crash zwischen einem Reichsbahn-Güterzug und einer mobilen Radarstation der Sowjets ging. Widerlegt wurde dabei die »Mitschuld« des deutschen Bahnpersonals, die von der Gegenseite »frei erfunden« worden war.
Bei Vergehen von Berufssoldaten blieben die sowjetischen Stellen jedoch weitaus hartnäckiger. So wurden zwei Fähnriche aus der Untersuchungshaft herausgeholt und die Ermittlungen eingestellt. Ost-Berlin hatte beiden in »begründeten« Haftbefehlen, wie es heißt, »schwere Vergewaltigung« vorgeworfen. Die Strafvereitelung in diesen Fällen wird als »besonders auffällig« kritisiert. Außerdem seien 1989 fünf Vergewaltiger durch Rückversetzung in die Heimat »der Strafverfolgung entzogen« worden. »Nötigung und Mißbrauch zu sexuellen Handlungen oder versuchte Vergewaltigungen wurden zumeist mit disziplinarischen Mitteln geahndet und nicht mit strafrechtlichen Mitteln verfolgt«.
Noch heute bestreitet Vize-Militärstaatsanwalt Iwan Subotschew, daß bei Straftaten eigener Soldaten beide Augen zugedrückt wurden. »Das ist eine Frage der Autorität unseres Staates«, erklärte der Generalmajor und verwies auf zwei Todesurteile durch russische Militärgerichte seit 1989. Die Rekruten Katukow und Patschapski hatten sich an Kindern anderer Angehöriger der Westgruppe vergangen und sie anschließend ermordet.
Mord und Totschlag an Deutschen tauchen in den Statistiken beider Seiten seither nicht mehr auf. Dafür differieren sie in allen anderen Punkten zum Teil erheblich. So gibt Subotschew lediglich neun Vergewaltigungen für 1989 zu und bezeichnet die von den Deutschen gezählten 40 Fälle als »nicht objektiv«. Dabei müsse es sich um anonyme Anzeigen oder eingestellte Ermittlungen handeln, so seine Deutung. Dasselbe gelte für die Differenz bei der Gesamtsumme von Straftaten 1989. Hier kamen die Deutschen auf 1.624 Fälle, die Sowjets dagegen nur auf 282. Der General: »Zu Recht. Sonst hätten sich doch wohl die deutschen Behörden oder Bürger bei uns gemeldet. Es sind aber keinerlei Erklärungen oder Beschwerden eingegangen.«
Der eigens hinzugezogene Personalchef der Burlakow-Armee, Generalmajor Juri Iwanuschkin, »freut sich, mitteilen zu können«, daß die Kriminalitätsrate gegenüber Deutschen viel schneller sinke als die Truppenstärke. Bei derzeit noch gut 200.000 Mann unter Waffen seien 1992 erst zwölf Straftaten vorgekommen, jeweils zur Hälfte Verkehrsdelikte und Diebstähle. Auf Nachfrage präzisiert Subotschew, daß zu einem Auto-Diebstahl bei Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern) auch wegen »versuchten Mordes« an Polizeibeamten ermittelt werde: »Das geht seinen Gang.«
Die Möglichkeiten des Wünsdorfer Oberkommandos, Rechtsbrüche von Stationierten wie früher zu »bagatellisieren« (O-Ton DDR-Justiz), haben sich mit der deutschen Einheit verringert. Verschwunden sind sie nicht. So sind nach wie vor allein russische Militärgerichte zuständig für Straftaten, die »Mitglieder der sowjetischen Truppen... in Ausübung dienstlicher Obliegenheiten begehen«. Weiter bestimmt Artikel 18 des Stationierungsvertrages vom Herbst 1990, daß selbst unbefriedigende Urteile von der anderen Vertragspartei hinzunehmen sind.
Bei »Meinungsverschiedenheiten« in der Rechtsauslegung kommt laut Vertragstext die juristische Arbeitsgruppe der Gemischten Deutsch-Sowjetischen Kommission zum Zuge. Dem Gremium wurde kürzlich auch eine Aufstellung von Straftaten Deutscher gegen Angehörige der Westgruppe präsentiert. Danach seien 1991 insgesamt 280 Überfälle auf Wachposten, Streifen, Kasernen und Wohnheime der Soldatenfamilien sowie Schändungen von Ehrenhainen registriert worden. Das war nach russischer Darstellung ein Zuwachs von 117 Fällen gegenüber 1990. General Iwanuschkin zufolge sei man bereit, »ein Maximum an Geduld« aufzubringen. »Aber die Offiziere sind ziemlich nervös.« Frank Losensky/
Karsten Witzmann
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