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KOMMENTARTotschlag ohne Motiv

■ Gehört unmotivierte Gewalt zur Metropole?

Darf es als Indiz für die Stimmungslage in der Stadt gelten, daß man bei einem Totschlag mit der Konstellation Opfer: Deutscher und Täter: Ausländer sogleich an eine politisch bedingte Tat und Ausländerfeindlichkeit denkt? Der Gedanke, so zeigen die Ermittlungen, ist vorschnell. Leichter erklärbar aber wird die Tat dadurch nicht. Der zugrunde liegende, nichtige Streit beweist lediglich, daß es in dieser Stadt nicht viel braucht für eine solche Tat. Am erschreckendsten scheint deshalb die Gewaltbereitschaft, die den Mord erst möglich gemacht hat. In Berlin ist vielfach diese hochfahrende Aggressivität zu spüren, die sich abrupt entlädt: beim Streit um den Parkplatz ebenso wie am Postamtschalter, weil der Beamte wieder mal zu langsam ist. Da wird schnell zugeschlagen. Immer häufiger sind dabei Waffen zur Hand; Messer oder — wie bei der gestrigen Tat — auch Pistolen. Über Motive sinnt man vergeblich nach. Der Mann, der vor wenigen Wochen eine junge Frau vor die einfahrende U-Bahn stieß, hatte sein Opfer nie zuvor gesehen und handelte aus einer Laune heraus. Was die Strafverfolgung angeht, so interessiert nur die individuelle Schuld. Aber gibt es weitergehende Fragen, auch Motive, die mit dem Strafgesetz überhaupt nicht zu fassen sind? Ist die Zunahme der Gewalttätigkeit ein Hinweis darauf, welche Spannungen in dieser vereinten sozialen Zwangsgemeinschaft vorhanden sind? Das Leben wird enger, härter, die unsichtbaren Grenzen immer unüberwindbarer, der Kampf um Anerkennung, Arbeitsplatz und Wohnung existentieller. Ist das der Preis einer in unendlich viele Subwelten zerfallenden Metropole, deren Mitglieder sich gegenseitig aufs fernste fremd und aufs höchste feind sind? Wird der Totschlag aus Nichtigkeit zur Regel? Vor einigen Jahren gab es in New York eine Serie von völlig unmotivierten Morden; Taten, bei denen unbescholtene Menschen urplötzlich ausgerastet sind, wie Ratten im zu engen Käfig. Ist das der Preis der Metropole? Gerd Nowakowski

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