: Die kleine Flucht nach Kühlungsborn
Vor drei Wochen fuhr eine siebte Klasse aus Kreuzberg an die Ostseeküste/ Nach 24 Stunden flüchteten die Besucher vor prügelnden Skins/ Jetzt fuhren die Kinder, Eltern und Lehrer noch einmal in den Osten — und trafen dort die Täter ■ Von Claus Christian Malzahn
Kühlungsborn/Berlin (taz) — Als Mehmet am vergangenen Samstag mit dem Reisebus durch das wald- und seenreiche Mecklenburg fuhr, würdigte er die prächtigen Alleebäume und saftigen grünen Wiesen am Straßenrand kaum eines Blickes. Schon zu Beginn der Reise hatte der dreizehnjährige Junge aus Kreuzberg seinen Game-Boy, ein Mini- Computerspielzeug, aus der Tasche gekramt. Seit der Abfahrt aus Kühlungsborn in Richtung Berlin schickte Mehmet kleine Turtle-Fighter in den Kampf gegen digitale Monster, denen im Laufe des Gefechts die Köpfe abgeschlagen wurden. Bei jeder Termination machte es piep.
Mehmet hatte das mondäne, direkt an der Ostsee gelegene Kühlungsborn an diesem Samstag schon zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen besucht. Diesmal war seine Schwester mitgekommen, seine Lehrer, die meisten seiner Klassenkameraden hatten ihn begleitet und sogar deren Eltern. Heute hatte er, im Unterschied zu damals, nur ein ganz klein wenig Angst gehabt. Wenn er die muskulösen, tätowierten Unterarme der mitgereisten Väter sah, war er sich sicher: heute kann mir nichts passieren.
Am Samstag, dem 9. Mai, war das ganz anders gewesen. Die 7. Klasse der Carl von Ossietzky-Gesamtschule in Kreuzberg war auf Klassenfahrt. Sieben Tage wollten die 19 Kinder mit ihren Lehrern in einem Schullandheim bei Kühlungsborn verbringen. Kurz nach der Ankunft suchte Mehmet im Städtchen eine Telefonzelle. „Ich wollte zu Hause anrufen. Im Schullandheim gab es kein Telefon“, berichtet er. In der Nähe der Telefonzelle saßen zwei Jugendliche auf einer Bank. Sie schimpften Mehmet einen „Kanacken“ und schlugen ihn auf den Rücken. Mehmet begann zu laufen. Die Schläger jagten den etwa 1,40 Meter großen Mehmet durch den Ort. „Als ich zwei Männer um Hilfe bat, haben die mich ausgelacht!“ erinnert er sich und schaut verlegen aus dem Busfenster. „Die haben mir gesagt: Du bist doch selbst schuld. Du bist Ausländer, was willst Du hier?“
Über Schleichwege war Mehmet zurück ins Heim geflüchtet. Völlig aufgelöst sei er dort nachmittags angekommen, erinnert sich sein Klassenlehrer Jürgen Rotalski. „Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. Nach dem Abendbrot wollte ich mit der Klasse über den Vorfall sprechen." Doch dazu kam es nicht mehr. Die Teller und Tassen waren noch nicht von den Tischen geräumt, als plötzlich acht männliche Jugendliche im Aufenthaltsraum des Heims auftauchten. Die ungebetenen Besucher trugen Bomberjacken und Springerstiefel und waren zum Teil mit Messern bewaffnet.
Als die uniformierten Gestalten den Raum betraten, sortierten sich die Mädchen und Jungen, die zuvor in kunterbunter Reihenfolge am Tisch gesessen hatten, von selbst in eine türkische und eine deutsche Gruppe.
Stundenlang Psychoterror
„Ich hab mich neben meine Freunde gestellt." sagt Mehmet. Für Jürgen Rotalski und seine Kollegin Elke Hettwer begannen die stressigsten vier Stunden ihres Berufslebens. „Wir wollten keine Schlägerei riskieren. Vielleicht hätte einer unserer Schüler dann plötzlich ein Messer im Bauch gehabt“, erklärt er. Die Pädagogen konnten nicht verhindern, daß Mehmet von einem der Eindringlinge einen Faustschlag erhielt und mit einem Halstuch stranguliert wurde, sie konnten nichts dagegen tun, als einer der Täter der kleinen Melanie eine Zigarette in das Gesicht schnippte. Sie konnten nur Schlimmeres verhüten: indem sie „redeten, redeten, und nochmals redeten!“ Die Kinder blieben stumm.
Mitunter gelang es den Pädagogen, die Stimmung etwas zu beruhigen. Dann prügelten die Eindringlinge nicht, dann redeten sie: Über ihren Haß auf „Kanacken“, über ihren „Frust mit der Treuhand“. Sie sprachen über die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern, über finanzielle Schwierigkeiten und Schulden und über die Langeweile in Kühlungsborn. Immer, wenn sie aufgeputscht von ihren Erzählungen, wieder zu prügeln begannen, stellten sich der Lehrer und die Lehrerin schützend vor die Kinder. Kurz vor Mitternacht verließen die Rowdies das Heim, nachdem sie damit gedroht hatten, am nächsten Tag „mit 30 Mann“ wiederzukommen. Solange wollten die Kinder nicht warten. Kaum waren die Schläger abgezogen, flüchtete die Gruppe in ein Hotel und fuhr am nächsten Tag, von 13 Polizisten beschützt, zurück nach Kreuzberg.
Am vergangenen Samstag, genau drei Wochen nach dem Zwischenfall, kehrten sie an den Ort des Geschehens zurück. In Diskussionen zwischen Lehrern, Eltern und Schülern hatte man sich in Kreuzberg darauf geeinigt, den furchtbaren Vorfall nicht auf sich beruhen zu lassen und schon gar nicht zu verdrängen. Ein Versuch, den psychischen Schaden, den die Kinder davongetragen hatten, zu begrenzen oder zu reparieren. „Die traumatischen Auswirkungen dieses Erlebnisses sind noch gar nicht abzusehen“, meint Jürgen Rotalksi. Viele Schüler waren nach dem Wochenende nachts schweißgebadet aus Angstträumen aufgewacht.
Rund 40 Kreuzberger Kinder, Eltern und Lehrer sowie ein SPD-Bezirkspolitiker trafen sich am frühen Samstag nachmittag mit über 50 Bewohnern von Kühlungsborn im Hotel am Park, darunter auch ein Dutzend „linker“ Jugendlicher. Den Besuchern aus Berlin saß die Leiterin der örtlichen Realschule gegenüber, der Kühlungsborner Pfarrer war gekommen, zwei Polizeibeamte anwesend. Auch der Bürgermeister des Badeortes war erschienen. Die Schüler aus Kreuzberg entdeckten unter den fremden auch ein paar bekannte Gesichter: ganz hinten in der Ecke des Saals hatten sich ihre Peiniger versammelt. Kaum älter als ihre Opfer. Wie Skinheads, so hatten die Kinder sie beschrieben, sahen die Dorfjugendlichen nicht aus.
Während der Bürgermeister sein Bedauern über den Vorfall bekundete und die Schulleiterin erklärte, daß die meisten Jugendlichen ihrer Schule sehr vernünftig und tolerant seien, hockten die Youngsters feixend in der Ecke. Sie waren auf eigenen Wunsch erschienen — allerdings nicht, um sich zu entschuldigen. „Das war keine Gewalt!“ behauptete Christian, der 16jährige Anführer der Gang. Er war der einzige, der sich in dieser Versammlung zu sprechen traute. „Weißt Du eigentlich, was Du unseren Kindern angetan hast?“ schrie eine Frau ihn an. Christian sah verlegen zur Seite.
Dem Saal entronnen, ist Christian vor den Toren des Hotels schnell wieder obenauf. Mit coolem Blick steht er zwischen seinen Kumpels. Doch angesichts der Kreuzberger Kraftpakete, die in ihrer Nähe stehen, bleibt es bei Drohungen: „Den kleinen Scheißtürken da würde ich jetzt gerne schlagen!" zischelt ein Gang-Mitglied. Er meint Mehmet.
„Ich hab so'n Frust!"
Als die Kreuzberger mit ihrem Reisebus Kühlungsborn verlassen, stehen Christian & Co am Straßenrand und heben die rechte Hand zum Hitlergruß. Nur ein einziges Mal fiel der Anführer aus seiner Rolle: Als er nach der Veranstaltung mit Jürgen Rotalski ruhig in einer Ecke über den Vorfall sprach. „Ich hab so'n Frust. Ich hab so'n Frust“, hat er dem Lehrer mit leiser Stimme gesagt. Er wirkte weder ängstlich noch martialisch, sondern: unendlich traurig. Rotalski: „Der hätte sich fast entschuldigt. Aber dafür standen einfach zu viele Leute ringsrum". Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Landesfriedensbruch und Nötigung. „Ich glaube, Skins kann man nicht ändern!“ sagt Mehmet mit resignierter Stimme bei der Rückreise im Bus. Er fand es trotzdem richtig, noch einmal in den Osten zu fahren. „Hier gibt es ja auch gute Leute.“ Mehmet möchte jetzt vor allem eins: Auf Klassenfahrt gehen. „Aber lieber nicht in den Osten!“ sagt er und schaut ganz kurz aus dem Fenster: Dort, hinter den Rapsfeldern liegen die Mecklenburger Seen. „Am liebsten“, sagt Mehmet leise, „würde ich jetzt nach Italien fahren.“ Dann wendet er sich seinen digitalen Monstern zu.
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