: Schlußstrich unter Aufarbeitung?
■ Betr.: taz vom 29.5.1992
“Fatal sei das Konzept des Antifaschismus im politischen Denken, ein großer Fehler“ — „...mit Vergleichen zur NS Ideologie sei der DVU nicht beizukommen, es gehe um die Freiheit zur Vielfalt und Differenz.“
Die theoretischen Vorstellungen von der Ungleichheit der Menschen sind also nicht in Verbindung zu bringen zu den Anschlägen auf Flüchtlingsheime? Gewiß, Massenmorde und systematische Vernichtung kann man Organisationen wie DVU, NPD oder REP nicht unterstellen. Bis zum Beweis des Gegenteils sind sie somit ehrenwerte Bürger vieleicht auch koalitionsfähig? Jedenfalls kann es doch niemanden hindern, Versatzstücke ihres Rassismus in eigene politische Äußerungen einzubeziehen, um ein bißchen populärer zu werden? Oder ist es gerade das, was sie akzeptabel machen soll? Dann braucht man sich nicht mehr zu genieren vor Schönhuber, oder? Jeder hat doch die Freiheit sich auszumalen, wie es werden könnte, nicht wahr? Welche Alternativen gibt es also? Der Antifaschismus soll ja ausgespart werden, ist er doch bedacht, einen Schlußstrich abzuwehren. Die Ideen der Französischen Revolution, die griechischen Philosophen, die Aufklärung? Sicher gibt es einen Haken, denn die griechischen Philosophen haben die Idee der Freiheit in der Notwendigkeit unter den Bedingungen der Sklaverei entwickelt. Die Französische Revolution war weder für die Bewohner der Kolonien noch für Frauen gedacht. Sie wurde nicht ohne Königsmord, Guillotine und Aufstände zum Leben erweckt. Läßt sich das wegwischen? Doch dies kann uns nicht daran hindern, ihre Wirkung auf uns heute auch in positivem Licht zu sehen. Warum also sind dann antifaschistische Ideen von vornherein suspekt?
Löschen die Verbrechen im Namen des Fortschrittes das Recht aus, die Frage nach Gleichheit und Freiheit auf der Tagesordnung zu halten? Ist nicht die Forderung auf Arbeit Antrieb zu weiteren Französischen Revolutionen gewesen? Mehr noch: heute greift von Potsdam bis St.Petersburg ein Gebeinskult Platz, der bei den Ideen der Französischen Revolution nicht halt macht. Sind die Vorstellungen von Gleichheit und Ungleichheit beliebig vertauschbar? War Hitler nur ein einmaliger Ausrutscher? Ist Antifaschismus wirklich nur eine Antithese zum Faschismus? Stecken darin nicht auch Konzepte für ein Deutschland, für eine Welt, die das Streben nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität auf der Tagesordnung haben sollte? Geht es darum, mit dem Zurückdrehen der Welt von Jalta und Potsdam auch gleichzeitig ihre ideenmäßige Grundlage zu verwerfen? So gesehen entpuppt sich diese Suche nach einem Dritten Weg eher als eine Unterwerfung unter die veränderten Verhältnisse. Soll der Opfer nur als Opfer gedacht werden, nicht auch gleichzeitig ihrer Visionen (und die waren vielfältig)? Haben sich manche dieser Visionen aber nicht auch als menschenverachtend und tötlich erwiesen? Muß deshalb der Antifaschismus für tot erklärt werden, weil er nicht halt macht vor der Aufarbeitung dieser Fragen? Nein, er lebt und gibt sich nicht zufrieden mit der Betrachtung der Welt, wie sie ist. R.Gaeblein-Henkel, Bremen 21
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen