: Andere Götter? Oder keine Götter?
Ein geschrumpfter Brecht und ein stilechter Claudel im Bochumer Schauspielhaus ■ Von Gerhard Preußer
Mit Steckel zurück in die fünfziger Jahre“, höhnten die Trendsetter über den Intendanten des Bochumer Schauspielhauses und seine statischen, düsteren und bilderarmen Aufführungen. So monochrom und nuanciert, so bitter und so leise wagte sonst niemand auf deutschen Bühnen zu inszenieren. Nun aber ist der Misanthrop überdrüssig der Grübelei und inszeniert mit unlustig forcierter Heiterkeit eine kleine Operettennichtigkeit.
Diese Petitesse, die der große Steckel uns da mit leichter Hand serviert, ist des sozialistischen Klassikers längstes Stück: Brechts Guter Mensch von Sezuan. Brecht überlegte vor der Uraufführung, ob man nicht erst den Drei-Stunden-Arbeitstag einführen müsse, bevor man dem Publikum zumuten könne, das Fünf- Stunden-Werk zu verkraften. Steckel kündigt im Programmheft zwei Stunden Aufführungsdauer an, meinte dann aber wohl, soviel gute Laune sei doch zu anstrengend und entläßt uns heiter überrascht nach anderthalb Stunden in den angebrochenen Abend.
Steckel streicht erbarmungslos — kein Wasserverkäufer Wang, kein Teppichhändlerpaar, keine vergeblich wartende Hochzeitsgesellschaft, keine Gerichtsszene — und nimmt dem Stück vor allem jene penetrante Belehrungssucht, die es so vorzüglich zur Waffe in der Hand von Deutschlehrern qualifizierte. Den ersten Song des Stückes, das Lied vom Rauch, bekommen wir noch in einer musikalischen Schrumpfversion zu hören, doch danach war dem Regisseur das wohl auch zuviel, und er strich auch noch die Songs. Statt dessen läßt er die Szenen selbst mit Piano-Live-Musik begleiten, und so wird aus Brechts ausgetüftelter Belehrung-durch-Unterhaltung-Dramaturgie ein leichtfüßiges Melodram und streckenweise eine Opernparodie. Der verliebte Shu Fu (Rainer Hauer) kommt auf die Bühne mit Zwirbelschnurrbart und Hochtoupet, als wäre er nicht der Barbier von Sezuan, sondern der von Sevilla oder Bagdad und erklärt seine Liebe, während das Klavier Tristanklänge säuselt.
Steckel könnte seine Schauspieler durchaus länger zeigen. Martina Krauel ist eine scharf konturierte, hübsch bösartige Hausbesitzerin Mi Tzü, und Katharina Linder ist ein so guter Mensch und eine so gute Schauspielerin, daß ihre Güte noch den bösen Shui Ta zu einer angenehmen Erscheinung macht. Aber dann verliert Steckel doch die Lust an der Lust, streicht die Schlußszene, läßt die Götter den ratlosen Epilog sprechen und salviert sich von dem Vorwurf der Inszenierungsfaulheit mit Brechts Zumutung, das Publikum solle sich doch selbst einen Schluß suchen.
Der Schluß, den Brecht mit plumper List uns finden lassen wollte („ein andrer Mensch?... eine andere Welt?... andere Götter? Oder keine?“), sagt uns nichts mehr, wir haben zu viele Menschenbilder und nur eine Welt. Was heißt es heute, Brecht zu spielen? In Bochum ist es eine heitere Reminiszenz. Brecht, der große Vereinfacher, ist harmlos.
Die Tradition des Hauses wird fortgesetzt in den Kammerspielen. Hier kommt man bei dreieinviertel Stunden feierlichem Textgeraune endlich wieder auf seine Kosten. Rolf Winkelgrund, der (Ost-)Berliner Regisseur, kapriziert sich in letzter Zeit auf die Gottsucher, deren Verbannung von den westdeutschen Bühnen einstmals der große Fortschritt der sechziger Jahre war. Barlach, Claudel, T.S. Eliot. Claudels zweites Drama Die Stadt ist zwar schon fast hundert Jahre alt (die zweite, in Bochum gespielte Fassung wurde 1898 abgeschlossen), trifft aber dennoch den Geist der fünfziger Jahre, als man den kommunistischen Ungeist mit dem Gespenst des christlichen Abendlandes vertreiben wollte.
Das Bühnenbild von Achim Römer hält sich denn auch an die damals übliche Mode. Bedeutungsvoll stilisierte Geometrie. Über einer flach gewölbten Erdscheibe wölbt sich ein enger Horizont. Auf diesem Symboldiskus dreht sich Claudels Sprachwirbel um sich selbst. Figuren stehen gedankenvoll herum, und aus ihnen tönen Sätze wie: „Und schlössen alle Menschen sich zusammen, es erwüchse ihnen daraus/ Kein größeres Recht gegen den einzelnen.“
Claudel hat hier die wiedersprüchlichen Konzeptionen und Gedankengebäude, die er seit 1886, seit seiner Bekehrung zum Katholizismus überwunden hatte, auf verschiedene Personen verteilt. Patriarchalische Demokratie, materialistischer Kapitalismus, anarchistischer Sozialismus und poetische Revolte begegnen sich als Staatsmann, Ingenieur, Revolutionär und Dichter.
In drei Akten zeigt uns Claudel Verfall, Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt, die den Staat, die Welt bedeutet. Der abgelebte Bourgeois schaufelt sich selbst das Grab (die einzige physische Aktion auf der Bühne: Erdaushub), die Sozialisten zerstören die Stadt, und auf ihren Ruinen errichtet ein Alleinherrscher den Staat neu. Die symbolistische Pikanterie ist nur, daß dieser jünglingsweise Fürst der Sohn des Dichters ist und dieser ihm als Bischof wieder begegnet. Wenn Ivor, der Jüngling mit dem Schwert, seinen Vater im Bischofsornat sieht, stammelt er verdutzt: „Was soll dieser Aufzug?“ (Claudel meint eigentlich das den Bischof begleitende Gefolge.) Hier hat die Inszenierung einen raren Moment perfekter Ironie. Ein Bischof im Ornat, der auf der Bühne seinem Sohn mit gemeinsam gefalteten Händen das Glaubensbekenntnis vorspricht, ist kaum ohne Kichern zu ertragen. Doch für Claudel ist dies der sublime Höhepunkt des Dramas: der Dichter-Bischof und sein Herrscher- Sohn beschließen, zusammen die Stadt wiederaufzubauen und ihr das Gesetz zu geben.
Wenn sich dieses Gedankensprachkunstwerk auf die Bühne bringen läßt — und vor Winkelgrund hat das in Deutschland noch niemand gewagt — und es zu mehr als zu einem Rezitationsabend beim Katholikentag sich eignen soll, dann muß man es wohl so stilecht versuchen wie in Bochum. Doch dem literarischen Museum entkommt die Inszenierung nur in den Momenten, wo die Distanz zu Claudels Gedankenwelt mitinszeniert wird. Als Ivor (Stephan Ullrich) die Königswürde angetragen wird, schmunzelt er bübisch, und seine Mitkämpfer gebärden sich wie stellungslose Geheimagenten.
Daß auf den Zusammenbruch des Sozialismus eine theokratische Monarchie folgen könnte, ist uns keine Verheißung mehr, sondern eine Drohung. Claudels individualistisches Christentum, formuliert in der Sprache Mallarmés und Rimbauds, erreicht uns heute nicht mehr. Die Götter, die man bei Brecht verlacht hat, kann man nun nicht bei Claudel wieder anbeten.
Paul Claudel: Die Stadt , Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele). Regie: Rolf Winkelgrund. Bühne: Achim Römer. Mit Wolf Redl, Angela Schmidt, Oliver Nägele, Jochen Tovote. Weitere Vorstellungen: 13., 15. Juni.
Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan , Schauspielhaus Bochum. Regie: Frank-Patrick Steckel. Bühne: Nikol Voigtländer. Musik: Elena Chernin. Mit Katharina Linder, Thomas Wüpper. Weitere Vorstellungen: 20., 23., 27. Juni.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen