AB 1995 POST-POSTZEITALTER IN IRLAND? Von Ralf Sotscheck

Die Fröhlichkeit unseres Briefträgers fand am Montag ein jähes Ende. Kein Wunder, hatte er doch sechs Wochen lang eine ruhige Kugel geschoben: Alle Briefe, die über die zentrale Sortierstelle in der Dubliner Innenstadt liefen, blieben liegen — 99 Prozent aller Sendungen. Doch das ist nun vorbei. Werden jetzt Überstunden eingelegt, um den Berg von acht Millionen Briefen abzutragen? „Überstunden? Ja, wo denkst du hin? Damit hat doch alles angefangen.“

Die Auseinandersetzungen begannen im April, als die Post die Empfehlungen eines Untersuchungsausschusses vom Januar umsetzen wollte. So wurden 180 Teilzeitkräfte eingestellt, um die jährlichen Überstundenkosten von 21 Millionen Pfund (56,7 Millionen Mark) zu senken. Den als „Aushilfen“ deklarierten Teilzeitkräften muß man nämlich weder Urlaubs- und Krankengeld noch Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Da die Festangestellten sich weigerten, mit den Aushilfen zu kooperieren, wurden sie kurzerhand vom Dienst suspendiert.

Die Gewerkschaften wurden von der Maßnahme überrascht. Zwar hatten sie ebenfalls den Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zugestimmt, diese jedoch völlig anders interpretiert. Da beide Seiten wochenlang hartnäckig schwiegen, wußte niemand, wo eigentlich die Streitpunkte lagen. Die Regierung hatte freilich in den Gewerkschaften längst die Schuldigen ausgemacht. Postministerin Maire Geoghegan- Quinn drohte gar, die Post 1995 dichtzumachen, falls sie bis dahin keine ausgeglichenen Bilanzen schreibe. In Anbetracht der Rekordverschuldung des irischen Staates wäre es nur konsequent, dann auch gleich die Regierung abzuschaffen.

Die Bevölkerung nahm den postlosen Zustand erstaunlich gelassen hin. Nach dem Streik des Fernsehens, der Hafenarbeiter und der Banken war es bereits der vierte große Arbeitskampf in diesem Jahr. Findige Köpfe hatten einen Botendienst nach Nordirland eingerichtet, wo die Post aufgegeben werden konnte, doch sie mußten diesen Service mangels Interesse gleich wieder einstellen. Lediglich die Kleinunternehmen kamen in Schwierigkeiten, da sie sechs Wochen lang weder Schecks noch Aufträge erhielten. Die Hälfte aller Versandfirmen stellte den Angestellten daher vorsorglich Kündigungen aus.

Die irischen Zeitungen sorgten sich rührend um ihre LeserInnen und wiesen in ausführlichen Artikeln darauf hin, daß die Rechnungen, die sich in der Sortierstelle stapelten, irgendwann einmal bezahlt werden müßten. Die staatlichen Unternehmen halfen sich allerdings selbst und richteten eine Kinderpost ein: Gas-, Strom- und Telefonrechnungen wurden von Zwölfjährigen ausgetragen. Am Wochenende einigten sich Post und Gewerkschaften schließlich darauf, daß 80 freie Stellen mit Festangestellten besetzt werden.

Der Briefträger drückt mir fünf Briefe in die Hand — die erste Post seit sechs Wochen: drei Rechnungen, das Programm des Dubliner Goethe-Instituts vom Mai und eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung Ende April.

Und wo ist die Auslandspost, die deutschen Zeitungen? In Anbetracht der Auslandsberichterstattung irischer Zeitungen kommt das einer Informationssperre gleich. „Die liegen auf Halde“, sagt der kaltherzige Beamte. „Zuerst kommt die innerirische Post dran.“ Meine fünf Briefe deuten darauf hin, daß man noch immer mit der Post vom April beschäftigt ist.