Zukunft der ČSFR am seidenen Faden

■ Verhandlungen über Regierungsbildung zunächst gescheitert/ Tschechischer Wahlsieger Klaus spricht von „tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten“/ Slowakischer Wahlsieger Meciar will Havel nicht unterstützen

Prag (afp) — Nach dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunde über die Bildung einer neuen Bundesregierung hängt die Zukunft des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken am seidenen Faden. Der von Präsident Vaclav Havel mit der Regierungsbildung beauftragte bisherige Finanzminister Vaclav Klaus sprach im Anschluß an sein Treffen mit dem slowakischen Wahlsieger Vladimir Meciar am Dienstag morgen von „tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten“ über die Zukunft der tschechisch-slowakischen Föderation. Der Slowake Meciar bezeichnete bei dem Gespräch mit Klaus den gemeinsamen tschechoslowakischen Staat ohne Umschweife als „verloren“.

Einziges positives Ergebnis der sechsstündigen Verhandlungen zwischen dem ultraliberalen Tschechen und dem linksnationalistischen Slowaken: Für Donnerstag wurde eine zweite Verhandlungsrunde angekündigt. Klaus und Meciar ließen also die Tür zu einer Einigung einen Spalt weit offen. Jedoch drohen die Slowaken, die Tür bald ganz zuzuschlagen. Die Führer der „Bewegung für eine Demokratische Slowakei“ (HZDS) hätten ihm zu verstehen gegeben, daß sie von dem Tag der ersten Sitzung des neugewählten slowakischen Parlamentes an die Unabhängigkeit der Slowakei ausrufen, eine eigene Verfassung verabschieden und einen slowakischen Präsidenten wählen könnten, berichtete der stellvertretende Vorsitzende der Bürgerlichen Demokratischen Partei (ODS), Petr Cermak.

Bei den Wahlen zum slowakischen Nationalrat hatte die HZDS die absolute Mehrheit nahezu erreicht. Der neugewählte Nationalrat sollte zum ersten Mal am 23. Juni zusammentreten. Er könnte bereits an diesem Tag Tatsachen schaffen, denn das neue Bundesparlament sollte sich erst am 26. Juni konstituieren.

Zu verstehen gegeben hatte Meciar seinem Verhandlungspartner Klaus offenbar auch, daß die HZDS den derzeitigen Präsidenten Vaclav Havel, der sich am 3. Juli der Wiederwahl stellen sollte, nicht unterstützen werde. „Unsere Ansichten über die Funktion des Bundespräsidenten gehen völlig auseinander“, erklärte Klaus, als er am Dienstag gegen drei Uhr morgens die Villa in Brno (Brünn) verließ, in der auf halben Wege zwischen Bratislava und Prag die Verhandlungen stattgefunden hatten. Havel selbst hatte am Tag nach den Parlamentswahlen erstmals Zweifel geäußert, ob er im Juli erneut als Präsidentschaftskandidat zur Verfügung steht. „Wenn ich überhaupt keine Möglichkeiten habe, die politischen und moralischen Werte in die staatliche Praxis umzusetzen, die mir wichtig sind, werde ich meine Kandidatur wahrscheinlich zurückziehen“, erklärte Havel in einer Rundfunkansprache.

Dem Plan Meciars, die Slowaken über ihre Unabhängigkeit per Referendum entscheiden zu lassen, setzte Klaus entgegen: „Dann machen wir das Gleiche und stellen dieselbe Frage den Tschechen.“ Bereits am Wochenende hatte der ODS-Chef eine Spaltung des Landes nicht ausgeschlossen. Nach der Bekanntgabe der ersten Wahlergebnisse im Fernsehen erklärte er, das erste Ziel seiner tschechischen Demokratischen Bürgerpartei sei die „Konstruktion einer vernünftigen Föderation zwischen Tschechen und Slowaken“. Sollte dies allerdings nicht realisierbar sein, müsse schnell eine zivilisierte Trennung erfolgen.