piwik no script img

NEU IM KINO: „Die Weissagung“ Sehen nach 1000 Saiten

Ein alter, als Heiliger verehrter Musiker wandert mit seinem Schüler durch grandiose, wilde Landschaften. Aber die beiden können die imposanten Berge, die endlos scheinenden Wüsten und den reißenden gelben Fluß nicht sehen: Sie sind blind.

Eine Weissagung gibt dem Leben des Meisters Sinn und Hoffnung: Wenn tausend Saiten auf seinem Banjo gerissen sind, wird er sehen können. Sein junger Gehilfe aber zweifelt aus guten Gründen an dieser Legende, ihm sind wirklich gelebte Liebe und Leidenschaft wichtiger als ungewisse Hoffnungen.

Ein mystisches Gleichnis, ein poetisches, ruhiges und überwältigend schönes Filmepos ist dem chinesischen Regisseur Chen Kaige mit seinem vierten Spielfilm gelungen. Die prächtigen Landschaftsaufnahmen aus der inneren Mongolei geben ihm eine meditative, eine geradezu erhabene Grundstimmung.

Obwohl einige kulturelle Bezüge und Anspielungen für den westlichen Zuschauer unerklärlich bleiben, hat der Film eine erstaunliche erzählerische Kraft. Auch wenn man zum Beispiel nicht versteht, warum Buddha am Ufer eines Flußes Nudeln verkauft, ist die Geste, mit der er dem blinden Meister seine Portion anbietet, von subtiler Schönheit und eindeutig als Segnung zu erkennen.

In einer anderen Szene gelingt es dem Alten nur mit seiner Musik, eine Schlacht zu beenden, bloß nützt ihm diese Macht nicht in seinem Kampf mit dem inneren Zweifel. Seine Sehnsucht nach dem Augenlicht und die Verbissenheit, mit der er auf die letzten verbleibenden Saiten einschlägt, geben dem Film ein starkes emotionales Zentrum.

In seiner meisterlichen Vision geht es Kaige um den Trost durch Hoffnung und Glauben, die Macht der Musik und der Liebe und um die Weisheit, die mit dem Herzen mehr sieht als mit den Augen. Eine zeitlose Parabel ohne direkte Anspielungen auf die Situation im heutigen China: Dennoch steht der junge Schüler, der die alten Glaubenssätze des Meisters in Frage stellt und am Ende des Films frei über sein Leben bestimmt, für die Hoffnung auf eine neue Generation, die den Machthabern in China ihre Weissagungen nicht mehr glauben wird. Wilfried Hippen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen