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Die großzügigen Geizhälse

Beim 75. Giro d'Italia begnügen sich die Superstars mit gegenseitigem Belauern und verzichten auf mutige Angriffe, wovon Außenseiter wie Udo Bölts als Etappensieger profitieren  ■ Aus Val d'Aosta Ole Richards

„Wenn ich diese Etappe als Spitzenreiter überlebe, kann mir den Giro- Sieg keiner mehr nehmen.“ Miguel Indurain

So munkelte der schöne Spanier bereits drei Tage vor dem 260 Kilometer langem Ritt von Saluzzo nach Pila. Die 19. und längste Etappe der 75. Italien-Rundfahrt war ein 180 Kilometer dauernder Anlauf durch die Kirschen-Region Piemont, bevor im Aosta-Tal der Alpen drei kräfteverschlingende Aufstiege auf die 153 Radprofis warteten. Diese drei Berge boten die letzte Chance, den Spanier noch von der Spitze zu verdrängen. Seitdem der Giro seit 1909 kreuz und quer durch Italien rollt, wurde er nie von einem Fahrer der iberischen Halbinsel gewonnen. Nach zweiten Plätzen von José Manuel Fuente (1972) und Francisco Galdos (1975) ist „König Miguel“ nun reif für die Erstbesteigung.

Seit er mit aufreizender Lässigkeit bei der Tour der France 1991 triumphierte, halten ihn viele Experten für den besten Etappenfahrer der Welt. Genauso viele Fachleute waren allerdings auch erstaunt, als der 27jährige Indurain kurz vor seiner möglichen Titelverteidigung in Frankreich sein Fahrrad in Italien an den Start schob. Unverzüglich informierte der „eleganteste Radfahrer der Welt“ ('Corriere dello Sport‘) seine Konkurrenz über die Ernsthaftigkeit seiner Giro- Pläne: seit der zweiten Etappe fährt Indurain in Rosa, auf der dritten degradierte der „schöne Miguel“ ('Tuttosport‘) im Einzelzeitfahren seine Gegner zu Zweitliga-Stramplern.

„Vor dem letzten Zeitfahren nach Mailand brauch ich glatt sechs Minuten Vorsprung vor Indurain.“ Franco Chioccioli

Der Titelverteidiger Chioccioli erreichte nie das athletische und mentale Formhoch des Vorjahres. Auch auf seine feurigen Angriffe warteten die Radsport-Tifosi vergeblich. Chiappucci ist mit dem zweiten Platz zufrieden, Giovannetti steckt die Spanien-Rundfahrt noch in den Beinen, Vona fehlt die Routine. Die Italiener sammeln einen Etappensieg nach dem anderen, aber sie rollen alle im Schatten des großen Indurain.

Der muß sich inzwischen vorwerfen lassen, mit einem entscheidenden Angriff in den Bergen den Giro '92 nicht entschieden zu haben. Aber Indurain begnügt sich mit Reaktionen, fährt stramm in der Spitzengruppe, kontert jede Attacke. Es kommt Langeweile auf. „Die Zeit der großen, abenteuerlichen Angriffe ist vorbei“, verteidigt sich Indurain. Es käme nur noch darauf an, die Spitzenposition zu verteidigen. „Auch Bugno fährt einen Vorsprung im Zeitfahren heraus und wartet dann nur noch ab“, verweiste der Spanier auf den neuen Typus der Rundfahrt- Sieger.

Die praktizierte Langeweile sah auf der 19. Etappe nach Pila dann so aus: Chiappucci griff an, Indurain fährt hinterher und lächelt. Chioccioli greift an, Indurain reagiert und grinst. 25 Kilometer bergauf ändern wieder nichts an der Gesamtwertung. Fast nichts.

„Der wurde einfach immer schwächer, das war mein Glück.“ Udo Bölts

Nach 24 der 260 Kilometer bildete sich eine 24köpfige Gruppe. Am ersten der drei Berge nach 165 Kilometern fuhren Ramon Gonzales Arietta und Udo Bölts auf und davon. Der Spanier kam mit einem Vorsprung von achteinhalb Minuten an den Einstieg zum letzten Aufstieg nach Pila in 1.810 Metern Höhe. 3.000 Meter vor dem Ziel verließen den bedauernswerten Kletterer die Kräfte. Zwei Minuten hinter ihm spielte sich in diesem Moment folgender Dialog zwischen Telekom-Fahrer Bölts und Telekom-Betreuer van Looy ab:

Betreuer: „Greif noch nicht an, zeig noch nicht, wie stark du bist.“

Fahrer: „Bin ich denn so stark?“

Betreuer: „Natürlich, du bist heute der stärkste von allen!“

Fahrer: „Gut, dann greif ich jetzt an.“

Die Folge dieser Attacke war der erste Etappensieg eines BRD-Fahrers beim Giro seit Andreas Kappes 1988, waren 1:48 Minuten Vorsprung vor Arietta und war Udo Bölts größter Sieg seines Radfahr-Lebens. „Ich kann das alles noch nicht fassen“, rätselte der 25jährige Pfälzer. Was mit seinem Sturz auf der 8. Etappe zusammenhängen kann. 1.300 Meter vor dem Ziel stürzte er mit sechzig Sachen, eritt ein Schleudertrauma im Nacken und konnte erst nach vier Tagen wieder schlafen.

Nun stand ihm wieder eine kurze Nacht bevor, weil der Sieg zu feiern war — unter bundesdeutschen Radrennfahrern immer noch ein seltener Anlaß. Er war den Stars dieser Tour zu verdanken, die sich vor lauter Schattenspiel und Manndeckung beim besten Willen nicht um den Etappensieg kümmern konnten.

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