Was unterscheidet einen Grashalm von einem Fernsehturm?

Heute wird in Wiesbaden der erste „Bionik“-Kongreß eröffnet/ Die neue Wissenschaft versteht sich als eine Verbindung von Biologie und Technik/ Noch geht es dabei vor allem um Grundlagenforschung/ Die Militärs mischen aber schon kräftig mit  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Wiesbaden (taz) — Ingenieure haben sich bis heute nicht mit der Haut etwa von Delphinen beschäftigt — und für Meeresbiologen waren U-Boote bislang „künstliche Geschöpfe“ der Ingenieure in den Werften. Das soll sich jetzt ändern: „Bionik“ heißt die neue Wissenschaft. Und an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken versucht ein Team um den Biologen Nachtigall seit knapp zwei Jahren „Verbindungslinien zwischen der Welt der Technik und der Welt der Natur“ (Nachtigall) zu finden. Denn „Bionik“ — Biologie und Technik — sei die Wissenschaft der Zukunft. Und diese Zukunft, so Nachtigall zur Eröffnung des ersten „Bionik“-Kongresses in Wiesbaden, werde „selbstverständlich“ von den jungen Ingenieuren gestaltet. Nach den Vorstellungen von Nachtigall sollen demnächst Seiteneinsteiger aus den Ingenieurwissenschaften in Saarbrücken „Bionik“ studieren können. „Bionik“, so die Definition des „Erzbischofs der neuen Disziplin“ (Nachtigall über Nachtigall), sei das „Lernen von der Natur als Anregung für eigenständiges technisches Gestalten“. So hat etwa der erste Preisträger des neugeschaffenen und mit 10.000 DM dotierten „Bionik“-Forschungspreises, Dietrich Bechert aus Berlin, eine Rillenfolie zur Luftwiderstandsverringerung erfunden — „abgekupfert“ von der Rillenoberfläche der Häute pfeilschneller Haifische. Flugzeuge mit einer Oberfläche aus der Bechertschen Rillenfolie, so der Erfinder stolz, würden pro Jahr bis zu 100 Tonnen Treibstoff weniger verbrauchen. Bechert: „Weltweit gerechnet sind das 500.000 Tonnen pro Jahr.“ Doch „Bionik“, so Nachtigall nach dem euphorischen Vortrag des Erfinders, bedeute nicht „Naturkopie“. Ihm und der Gesellschaft für Technische Biologie und Bionik mit zur Zeit 120 Mitgliedern geht es (noch) um die Grundlagenforschung. Ganze 12 Biologiestudenten und das siebenköpfige Team von Nachtigall gehen in Saarbrücken etwa der Frage nach, was ein Grashalm und ein Fernsehturm an strukturellen Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben? Nachtigall: „Wahrscheinlich nichts, aber das müssen wir erst beweisen.“ Daß sich auch die Industrie für „Bionik“ interessiert, beweist die Sponsorenliste: BASF und MBB engagieren sich — und das Kernforschungszentrum in Karlsruhe schickt einen Referenten nach Wiesbaden. Daß „Bionik“ auch die Militärs beschäftigt, wußte Preisträger Bechert zu berichten. So habe die US-Army mit haarigen Materialien für die Raketenverkleidung experimentiert. Und auf der Krim, so Nachtigall, sollen die Sowjets Solaris- U-Boote mit Delphinhäuten überzogen haben, um sie schneller zu machen. Nachtigall: „Alles noch immer streng geheim.“

Vom „Beginn eines neuen bionischen Zeitalters“ schwärmte schon eine Sondernummer der Zeitschrift 'Delphin‘ auf dem Kongreß, die von der Bionik-Beteiligungs- und Verwaltungs GmbH und von Partner-Grundbesitz gesponsort wird. Weil aber noch immer kaum ein Mensch mit dem Wort „Bionik“ etwas anfangen könne, haben sich die Marketingspezialisten etwas einfallen lassen, um die Massen dennoch in die Rhein-Main-Halle zu locken: Das „Nordharzer Schlangenparadies“ wird vier Tage lang seinen Tierchen vor Publikum Gift abzapfen. Chef im Ring ist der Schlangenzüchter Jürgen Hegert, der 100 Tage mit hochgiftigen Schlangen in einem Käfig verbrachte. Nachtigall: „Irgendwie hat das doch auch mit 'Bionik‘ zu tun — oder nicht?“