: Flucht nach vorn
■ Ein wenig übertrieben hat er schon, der diesjährige Documenta-Chef Jan Hoet. Was er versprochen hat, kann er nicht einlösen. Dennoch sind eine Vielzahl hervorragender Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus ...
Flucht nach vorn Ein wenig übertrieben hat er schon, der diesjährige Documenta-Chef Jan Hoet. Was er versprochen hat, kann er nicht einlösen. Dennoch sind eine Vielzahl hervorragender Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus Ost und West zu sehen. Prachtstück der Ausstellung ist das Fridericianum. Die neue Documenta-Halle erweist sich dagegen als problematisch für Installationen.
AUS KASSEL ULF ERDMANN ZIEGLER
Die Besucher haben die Wahl. Im Angebot sind eine d9-Reversnadel, 925er Sterling Silber, in einer Auflage von 7777 Stück, eine d9-Watch, swiss made, Auflage 2222 Stück, das d9- Künstler-T-Shirt mit den Motiven „Constantin Zvezdochotov“ oder „Jan Hoet“ — Moment mal, ein „Künstler“-T-Shirt mit dem Namen des Ausstellungsleiters Hoet (sprich: Hut). Ja, und wem das nicht paßt, für den gibt es noch die regulären d9-T- Shirts, etwa mit den Motiven „Jan... Who? Docu... What?“ oder „Who's afraid of Jan Hoet?“.
Man kann wohl sagen, daß der zum Chef der Documenta IX berufene Museumsmann aus dem belgischen Gent ein wenig übertrieben hat; eine Mischung an Eifer wie Jimmy Carter und Bruce Springsteen zusammen. Da sitzt er nun, unter Blitzlichtgewitter, in der Mensa der Gesamthochschule Kassel, wo die Pressekonferenz diesmal stattfindet. Nein, nicht im Saal des Theaters, das mitten zwischen den Gebäuden der Documenta liegt; denn Jan Hoet hat sich mit dem Chef des Theaters verkracht. Und mit einigen Künstlern, die sich immerhin so rechtzeitig zurückgezogen hatten, daß sie im Katalog nicht erscheinen.
Wieder tritt Hoet die Flucht nach vorn an. Kooperation mit den Künstlern sei der Maßstab gewesen. Von keinem Künstler, der nicht hätte kommen wollen, hätte man hinterrücks versucht, Werke auszuleihen. Es gehört zu den wenigen Sätzen, die man klar versteht, ansonsten stiftet Hoet, mutig unsystematisch zwischen deutsch und englisch wechselnd, erhebliche Verwirrung. Nicht zuletzt deshalb, weil man die Fragen der Journalistinnen und Journalisten nicht versteht. Es gibt nicht genug Mikrophone, und Pressesprecherin Claudia Herstatt kann sich nicht entscheiden, die Reihenfolge der Fragenden festzulegen. Nur Siglinde Kallnbach, Performancekünstlerin zu Kassel, gelingt es, sich vom Geschäftsführer Farenholtz ein Mikro auszuleihen. Sie stellt klar, daß sich Hoet für seine (auf den US-amerikanischen Boxer Mike Tyson bezogene) Äußerung vom Februar, zu vergewaltigen könne „jedem passieren“, nach drei Monaten immerhin entschuldigt habe. Herstatt belehrt sie, das interessiere niemand, sie könne das mit Hoet privat besprechen.
Hoets Show hat Risse bekommen. Es kann losgehen. Sofern es kann. Vor dem Fridericianum steht noch der Lastwagen der Kunsttransportfirma Hasenkamp, es wird ausgeladen. Drinnen Verpackungen vor Bildern und in Installationen, Handwerkszeug eilig abgestellt im Innersten einer strengen Metallskulptur von Royden Rabinowitsch. Bei rund der Hälfte der Arbeiten fehlen die Namensschilder.
Aber das hat auch sein Gutes, man traut den Augen. Zunächst sind es die klaren Dinge, die einen fesseln oder sich nur im Vorübergehen in die Erinnerung ritzen: zwei im Affenzahn sich drehende Metallsäulen, die vom Boden bis an die Decke reichen (eine Berührung verrät, daß sie gut gefettet sind); eine Gruppe von schwarzen Leder-Punching-Balls, die so dicht von der Decke hängen, daß man sich zum Kunstwerk dahinter förmlich durchschlagen muß. Eine Gruppe männlicher nackter Puppen — sämtlich dieselbe Figur darstellend — die sich miteinander in lustlosem Sex aller Varianten verhakt haben. Ein langer, stockdunkler Raum, in dem über Videoprojektionen Figuren aus dem Dunkeln auf einen zutreten und sich dann abwenden. „Wo bist du denn?", fragt eine Besucherin ihren Begleiter. Offensichtlich mißversteht sie die Arbeit als Videoüberwachung. Doch die Figuren auf den Bildschirmen sind nicht wir selbst.
Die Maler sind immer noch ganz deutlich in der Minderheit. Ganz deutlich geprägt vom Totalitätsanspruch des Kinos, installieren die Künstler ihre Ambiente, manchmal dürftige und plagiatorische, dann wieder komplexe Visionen. Im ersten Stockwerk des Fridericianums stolpert man in eine Bar. Es werden Drinks ausgeschenkt. Es ist alles sehr cool. Ein schwarzes Klavier spielt von Geisterhand die passende Musik. Auf Videobildschirmen erscheinen Gesichter, deren Stimmen man nicht hört. Statt dessen erscheinen in der Untertitelung Sätze, kurze, prägnante biographische Äußerungen dieser Leute — die alle Klavierspieler waren; aus der Transitbar heißt die Arbeit der Kanadierin Vera Frenkel. Die Piano Bar als Metapher des Übergangs, der oder die Pianist(in) als falsche(r) Vertraute(r) der Ortlosen und Vertriebenen. Durch ein kopfgroßes Loch in einer gewaltsam durchbrochenen Wand sieht man ins Hinterzimmer: schmuddelige Koffer, ein Mantel an der Garderobe. Ärmlichkeit auf der Flucht.
Ein Mantel, ein viel zu großer Mantel, ist auch Teil einer ergreifenden Arbeit von Louise Bourgeois, Jahrgang 1911, die erst jetzt richtig entdeckt wird: seit fünfzig Jahren meißelt sie an den Sprachen des Patriarchats, die sie sich einverleibt hat, als extrem widerständige Kraft: Precious Liquids. Das Fridericianum ist, mit etlichen Einbauten, wieder extrem labyrinthisch, die Kunst ist vor die Eigenwirkung der Architektur gestellt. Im Zwehrenturm, der über das zweite Stockwerk von oben begehbar ist, findet man in winzigen Kammern Hoets Referenzen zur Kunstgeschichte: Davids Marat assassine von 1792 — im Original, ein Eingeborenenakt von Gauguin (1892) und James Ensors Selbstportrait mit Blumenhut (1883): gegen die hochgeschraubte Subjektivität der Zeitgenossen wirken diese Bilder, nebeneinander, wahrhaft ekklektizistisch. Und wie neu.
Mit rund zweihundert Künstlerinnen und Künstlern ist die Documenta IX nicht überdimensioniert, aber die Zahl der Werke und Spielorte geht ins Monströse. Von der Orangerie, die der Documenta weggenommen worden ist, hat man sich dann doch ein paar Zimmer leihen können — und miserabel, willkürlich genutzt. Die neue „Documentahalle“ ist, bis auf die wenigen Kabinettsäle, extrem schwer zu bespielen. Im großen Saal hat Hoet die gebogene Stirnseite des 11 Meter hohen Hauptsaals an den alten Mann der arte povera, Mario Merz, gegeben; also wieder Reisigbündel, Neonzahlen und buntes Papier: eine weise Entscheidung, die gründlich gähnen macht.
Auch die anderen Spielorte haben erhebliche Schwächen: die vorübergehend in die Karlsaue gestellten Container haben viel Licht und eine angenehme Transparenz, aber nicht die nötige Festigkeit und Klarheit für die Präsentation komplexer Werke; Gerhard Richters schwierig-systematische Ölbilder auf notdürftigen Naturholzverkleidungen — da ist selbst das Sichtbare im Unsichtbaren unsichtbar geworden. Noch unbegreiflicher die Präsentation in der Neuen Galerie, in der Künstler bereits vorhandene Kunstwerke kommentieren: Kosuth verhängt die Bilder und deklariert sie mit sorgfältigst gesuchten Literaturzitaten zum Passagen-Werk; Zoe Leonhard will in den Genre-Gemälden des 18. Jahrhunderts den Voyeur entlarven und kontrastiert sie mit Schwarzweißfotos weiblicher Genitale. Leider hat man auch Werke, die nicht im Zusammenhang mit Documenta-Arbeiten gestehen, zugänglich gelassen (zum Beispiel die komplette Beuys- Installation Das Rudel von 1969), so daß Anflüge von Irritation gänzlich in Verwirrung umschlagen. Ein konzeptioneller Fehler.
Es ist dieses Geflecht von peripherem Kommentar bis zur komplexen Installation „imaginärer Räume“, was die westliche Kunst ausmacht; und Jan Hoet mag recht haben, daß afrikanische Kunst, zum Beispiel, mit diesem hochgereizten und reizvollen Diskurs der Subjektivität kaum vergleichbar ist. Die östlichen Künstler bewegen sich inzwischen auf den westlichen Paradigmen, aber wenn man Hoets enger Wahl vertraut, fehlt eine gewisse Brisanz, das Jonglieren zwischen Banalem und Katastrophischem.
Große Ausnahme: Ilya Kabakov, dessen genialen Beitrag die Geduldigen im Hof des Fridericianums finden: eine typische russische öffentliche Toilette, eine grob gemauerte Baracke mit hochliegender Fensterzeile, Männer links, Frauen rechts. Drinnen aber findet der öffentliche Besucher eine verkommene Wohnstube, mit Herd und Sofa, Bett und Kinderecke. Sandiger Boden, Dreck und Düsterkeit. Und an der Rückseite die offenen Latrinen: eine böse Karikatur einer Gesellschaft, die den geschichtslosen Bedürfnissen des Kollektivs ein Opfer gebracht hat, nämlich die Geschichte eines jeden, für die das Kunstwerk steht.
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