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In der Legitimationsfalle

Warum die Volksparteien dennoch nicht am Ende sind  ■ Von Reinhard Klimmt

Nicht nach dem Mund reden, aber — mit Luther — aufs Maul schauen sollte man schon. Da wird schweres Geschütz aufgefahren. Auch von denjenigen, die es gut mit den Traditionsparteien meinen. Die SPD ist der geborene Kandidat für den Titel des politischen Fossils. Antje Vollmers Artikel ist ohne Häme, ohne Schadenfreude, ohne Zynismus. So können wir uns beide in der gleichen Sorge begegnen. In der Sorge nämlich, ob die Krise der Volksparteien in die Krise des Politischen umschlägt. Daß es eine Krise der Volksparteien gibt, darüber besteht weitgehend Konsens zwischen den Kritikern und den Kritisierten. Fraglich scheint nur zu sein, ob diese Krise bereits chronisch geworden ist. Mit Valium kann man diese Krise nicht meistern. Die Symptome sind nur allzu deutlich:

— Die beiden großen Volksparteien verhalten sich nicht mehr zueinander wie kommunizierende Röhren. Wenn die eine abnimmt, nimmt die andere nicht notwendig zu.

— Die Zahl der Nichtwähler steigt.

— Rechts von der CDU entsteht eine vielfältige Parteienlandschaft.

— Die Innovationskraft der großen Parteien hat nachgelassen.

Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen ihre Sorgen bei den Politikern nicht mehr gut aufgehoben. „Akuter Vertrauensverlust“ — das ist der Befund, der uns Politikern gewaltig an die Nieren geht.

Die SPD — ein politisches Fossil?

Bloß darüber zu lamentieren, wäre hilflos und unfruchtbar. In unserer Verfassung ist kein Mißtrauensvotum gegen das Volk vorgesehen. Und das ist gut so. Im übrigen: Viele in der SPD ahnen, daß es für diesen Vertrauensverlust gute Gründe gibt. Auch wir stöhnen ja gelegentlich über den kurzen Atem des Politischen. Da hat man sich 1990 endlich aufgerafft, der gesellschaftlichen Entwicklung eine ökologische Richtung zu geben, ein Projekt, dessen Faszination erst im Vollzug erlebbar geworden wäre, und dann hat man das verstauben lassen. Ab und an ärgert mich die Wendigkeit des Tankers SPD mehr als sein langer Bremsweg.

Es hat Ungeschicklichkeiten, es hat auch Affären und Skandale gegeben. Es ist und bleibt auch richtig, daß sich der Politiker, der ständig Gesetze, Vorschriften und Maßnahmen erläßt, anderen Maßstäben fügen muß als der Besitz- oder der Wohlstandsbürger. Die Entfremdung — sie ist eine wechselseitige — zwischen Politikern und Bürgern läßt sich nicht alleine aus dem Handeln der Politiker erklären. Drei Gründe scheinen mir maßgeblich zu sein für diese Entfremdung.

„Erfahrungsentzug bei fast allen Politikern“

Erstens: Solange die SPD fast überall in der Opposition war, ließ sich mit Politik kaum Geld verdienen. Der Unterschied zwischen dem einfachen Parteimitglied und dem Funktionär ehrenhalber war der des politischen Engagements, nicht der der verschiedenen Einkommen. Ohne Frage kann einer, der 10.000 Mark verdient, Politik für andere machen, die ein Einkommen von 2.000 Mark haben. Auf der Ebene der Interessen gelingt das Stellvertreterhandeln allemal. Was fehlt, ist das Grundgefühl für das Weltbild, die diffuse Verstrickung von Interessen, Gefühlen und den Regeln des „fair play“ in der jeweiligen Gruppe.

Zweitens: Politik in Deutschland ist weitgehend ein Medienereignis. Das Medium schiebt sich zwischen die Menschen und stört deren authentische Beziehung. Fast alle Spitzenpolitiker, die ich kenne, leiden unter Erfahrungsentzug. Sie wissen viel und auch viel mehr als manche glauben. Aber sie sind doch auch des Mitgefühls beraubt, das sich aus authentischen Beziehungen ergibt.

Drittens: Es war immer das Lebensgefühl der Linken, sich von dem faszinieren zu lassen, was noch nicht ist. Links sein heißt habituell kritisch sein. Links sein heißt, Politik mehr in der Kategorie des Möglichkeitssinnes zu denken als im Wirklichkeitssinn. Wenn man in elf von 16 Bundesländern an der Regierung beteiligt ist, bemessen die Bürger die Leistung einer Partei am Ertrag der Regierung und an nichts anderem.

So gesehen scheint es mir voreilig, den Funktionswandel der Volksparteien als deren Sinnkrise zu rekonstruieren. Wo, wenn nicht dort, sollen authentische Begegnungen stattfinden, die der Politik die Dimension des Moralischen zurückgeben? Wo sollen die sozialen Lernprozesse organisiert werden, die sich nicht im Medium der Texte, sondern im Medium der Köpfe und Herzen abspielen? Und wie sonst sollen aus informierten Politikern erfahrene Praktiker werden?

Es gibt nicht nur eine Krise der Volksparteien, es gibt ein Stocken unseres politischen Modells. Die Politik der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik war zusammengehalten von einem Konsens, der die Parteien und die organisierte Gesellschaft zusammenband. Seit Mitte der sechziger Jahre gab es einen Konsens in der Bundesrepublik, daß der Wohlstand der Gesellschaft durch die Marktwirtschaft gemehrt werden könne und ihre soziale Integration durch die Verteilung der Zuwächse. Dieses Konsensmodell wurde bereits in den letzten zehn Jahren an einigen Stellen verletzt, aber es wurde nicht zum Einsturz gebracht. Bezogen auf die vor uns liegenden Aufgaben aber wird es nicht mehr funktionieren.

Der alte Konsens zwischen den Volksparteien und der Gesellschaft ist aufgebraucht. Aus einem schlichten Grunde: Es wird über längere Zeit keine Zuwächse mehr geben. Für eine begrenzte Zeit geht es um die Verteilung des Mangels. Das Abschneiden der Republikaner in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und jetzt im Westen Berlins erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß manche Menschen sich in die Vereinigungssolidarität gezwungen fühlen, ohne zur Vereinigung gefragt worden zu sein. Da es zur Vereinigung keine Alternative gab und gibt — wohl aber zum Vereinigungsweg —, rechne ich damit, daß das Protestverhalten noch einige Jahre andauert.

Wir alle wissen, daß der Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern nicht durch Großherzigkeit allein gelingen kann. Die private Initiative reicht nicht aus. Die organisierte Gesellschaft aber, insbesondere die Tarifparteien, fühlen sich nicht in der Lage, den Verteilungsprozeß auf gesellschaftlicher Ebene zu regeln. Mit Gründen — auch wenn ernstzunehmende Initiativen der IG Metall schnell aus dem Verkehr gezogen wurden.

„Die Kaste der Politiker wird verachtet“

So sind wir in der paradoxen Situation, daß der verachteten Kaste der Politiker die Aufgabe übertragen wird, zu der sich weder die Bürger noch die Gesellschaft hinreichend kompetent fühlen. Der Staat muß diesen Umverteilungsprozeß organisieren — und Regierungen gleich welcher Couleur sitzen über wenigstens zwei Legislaturperioden in der Legitimationsfalle. Die Anforderungen an die Regierung steigen direkt proportional mit der Verachtung ihrer Mitglieder. Dabei geht es nicht allein um die Integration der neuen Bundesländer: Das Politische erlebt auch auf einigen anderen Feldern eine Renaissance.

Grob gesagt, war es die Grundidee der Linken, durch die Steigerung der Intelligenz des Systems und der Strukturen den Bürger einfach mitzunehmen. Das „Sein bestimmt das Bewußtsein“ — manchen wird das auch heute noch bekannt vorkommen. Die Haltung der aufgeklärten Rechten über Jahrzehnte war es, System und Struktur zu enthistorisieren und auf die Gesinnung und Gesittung der Bürger zu setzen. Übrigens: Hier treffen sich linksaußen grün mit rechtsaußen schwarz.

Linksaußen grün trifft rechtsaußen schwarz

Die geistigen Grundlagen beider Politikmodelle erweisen sich als zu eng. Die Konservativen müßten lernen, sich mit Systemfragen zu beschäftigen, denn unser Wirtschaftssystem läßt sich nicht planetarisch verallgemeinern. Sozialdemokraten müssen den Diskurs über die Einstellungs- und Verhaltensveränderungen der Bürgerinnen und der Bürger führen. Wie soll dies alles geschehen ohne die Volksparteien?

Mitte der achtziger Jahre fragte eine große englische Zeitung nach dem Erfolgsrezept von Bundeskanzler Helmut Kohl. Sie fand damals eine überzeugende Antwort: Das Erfolgsgeheimnis von Kohl ist, daß er den Bürgern verspricht, sie einfach in Ruhe zu lassen. Für Ökonomen, Politologen und Philosophen kann man diesen Befund auch anders beschreiben: Man kann auch sagen, diese Regierung hat die Leitidee, den Staat auf seine eigentliche Aufgabe zurückzuführen. Demokratisierung aller Lebensbereiche hier — das war die etwas überzogene Leitidee der Ära Brandts —, und Privatisierung der politischen Bereichs dort: Dies war die nicht weniger überzogene Leitidee des Kohlismus. Helmut Kohl glaubt nicht daran, daß allzu viele Bürger und Bürgerinnen am politischen Prozeß partizipieren wollen. Politik light.

Auch wir Politiker leiden an dem Verlust des Vertrauens, das wir den Bürgern eigentlich entgegenbringen sollten. Solange die Menschen im Supermarkt jedesmal aufs neue eine Plastiktüte für 20 Pfennige kaufen, um Gemüse und Cola nach Hause zu bringen, glaube ich nicht so recht an die normative Verbindlichkeit von Umfragen. Für über 70 Prozent der Menschen ist Umweltpolitik das wichtigste Thema. Aber die Regierung scheut sich, ein Tempolimit durchzubringen, weil sie nicht als Spielverderber für die angesehen werden will, die gerne über 160 Stundenkilometer fahren. Oder: Jeder, der praktisch verantwortlich ist, macht die alltägliche Erfahrung, daß manche Leute die Maßstäbe immer so hoch legen, daß sie bequem darunter durchgehen können.

Die Politiker mißtrauen auch den Bürgerinnen und Bürgern, und das nicht ohne Grund. Ich bin überzeugt, daß wir den Menschen über die Jahre nicht zuviel, sondern eher zuwenig zugemutet haben, daß das „Weiter so“ in alle Parteien eingesickert ist. Es gibt auch zuviel Bürgernähe! Dann nämlich, wenn die Parteien zu „Ted-Parteien“ werden. Parteien, die ein bloßes Duplikat des faktisch vorhandenen Bürgerwillens sind, brauchen sich nicht darüber zu wundern, wenn sie kenntlich werden bis zur Verwechselbarkeit. Das ist die Gefahr derjenigen, die jetzt die SPD radikal modernisieren wollen. Natürlich wäre schon viel gewonnen, wenn schlicht und einfach effektiv regiert wird. Die handwerkliche Qualität des Politischen hat genügend Schaden genommen in den letzten Jahren. Wer die SPD aber zu verkürzen versuchte auf ein reines Vollzugsorgan des Bürgerwillens, der hätte mich nicht mehr an seiner Seite. Die Politik der Sozialdemokraten war der Mehrheit der Bürger immer etwas voraus — wenn auch in Rufweite. Als Willy Brandt noch als Außenminister 1966 die Ostpolitik durchsetzte, hatte er keine Mehrheit, weder in der Bevölkerung noch in der Partei. Die Gesellschaft lernte im Vollzug dieser Politik, der man in der Mehrzahl skeptisch oder ablehnend gegenüberstand.

„Es gibt ein Zuviel an Bürgernähe!“

In der Politik ist es wie in der Wirtschaft: Auch für sie gilt, daß nicht nur die Nachfrage das Angebot bestimmt, sondern auch das Angebot die Nachfrage. Als Weltanschauungspartei hat die SPD ausgedient — schon vor Godesberg. Ob es angesichts der gegenwärtigen Dynamik Sinn macht, sich Programme zu geben, die über dreißig Jahre vorhalten sollen — naturwissenschaftliche Fachbücher haben eine Halbwertzeit von sieben Jahren —, darüber kann gestritten werden.

Der Warnung Antje Vollmers vor dem Populismus stimme ich zu. Das Gegenbild allerdings darf nicht werden, daß sich die Bildungselite über die Zukunft des Landes verständigt und die Parteien und die Bürger nur noch Vollzug zu melden haben. Dann könnte man das Parlament gleich auflösen und durch einen Rat der Fakultätspräsidenten aller deutschen Universitäten ersetzen. Auf der intellektuellen Ebene, auf der Ebene konkurrierender Problemlösungsmodelle wären da sicher faszinierendere Vorschläge zu erwarten, als sie gemeinhin aus den Volksparteien zu erhoffen sind. Nur: Politik läßt sich nicht auf die Gediegenheit von Texten und die Eloquenz von Gutachten reduzieren. Antje Vollmer meint, daß die Parteien als Ideenspender ausfallen. Recht hat sie. (Obwohl die Mehrzahl der Intellektuellen auf die deutsche Vereinigung, ganz ohne eigene Inspiration, einfach nur reagiert hat.)

Wenn man unter Ideen Einfälle versteht, phantasievolle Inszenierungen und originelle Arrangements, dann mag diese Überlegung zutreffen. In den Archiven des Deutschen Bundestags liegen Hunderte beachtenswerter Gutachten, zahlreiche bemerkenswerte oder auch faszinierende Essays werden in Zeitschriften abgedruckt oder in Broschüren publiziert. Politik aber, wie sie hier zur Debatte steht, hat eine ganz andere Dimension: die Dimension des sozialen Handelns. Es ist einfach Überzeugungsarbeit an und mit den Menschen. Wer glaubt, bei dieser Überzeugungsarbeit auf schon geleistete Integration verzichten zu können, der wird nicht allzu weit kommen. Daß in Baden-Württemberg mehr als zehn Prozent der Menschen die Republikaner gewählt haben, ist schlimm genug. Nicht wenige wählen sie nur deshalb nicht, weil sie sich nicht in schlechte Gesellschaft begeben wollen. Auch hier wirkt die subtile Integrationskraft der Volksparteien.

Volksparteien können nicht durch Interessen zusammengehalten werden. Eine Partei, die nur die Interessen der Arbeiter verfolgen würde, wäre hoffnungslos verloren. Die Grünen haben 40.000 Mitglieder, die SPD hat wenigstens 250.000 Grüne. Es gibt mehr Unternehmer in der Partei als die FDP Mitglieder hat. Die gemeinsam geteilte Erfahrung der alten Arbeiterbewegung steht nicht mehr fraglos zur Verfügung.

„Parteien fallen als Ideenspender aus“

Nein, eine Idylle ist diese Partei wahrlich nicht. Aber sie ist immer noch ein Ort, wo Erfahrung bedacht, Gespräche vernetzt und soziale Verbindlichkeiten gepflegt werden. Daß hin und wieder in der Parteispitze die soziale Dimension des Politischen vernachlässigt wird, merke ich hier nur leise an. Daß die Volksparteien am Ende seien, vermag ich nicht zu erkennen. Aber ich bin Befangener — ich würde mich als Richter in dieser Sache auch nicht akzeptieren. Daß sich die Volksparteien verändern werden und verändern müssen ist klar. Es wäre ja auch eine absurde Idee, daß die gesellschaftliche Säkularisierung ausgerechnet um die Volksparteien einen Umweg machen würde. Wenn es einer linken Volkspartei dann gelingt — Stichwort: Kampagnenfähigkeit —, den Common Sense in einer Gesellschaft um Millimeter nach vorne zu verschieben, dann werte ich dies als einen Erfolg.

Und wenn man dazu Plakate kleben muß, dann tut man das auch. Mir macht das noch immer Spaß.

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