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Die Zukunft verspielt

Roberto Ciulli bringt Gorkis „Nachtasyl“ und Brechts „Die Ausnahme und die Regel“ auf die Bühne  ■ Von Gerhard Preußer

Giftgas oder radioaktive Strahlung— irgendeine heimtückische Massenvernichtungswaffe scheint die Menschen auf der Bühne überrascht zu haben. Mit verrenkten Gliedern, zusammengekrümmt, in Lumpenhaufen verkrallt, liegen sie auf der Bühne. Sie tragen die blaue Einheitskleidung von Fabrikarbeitern, Anstaltsinsassen oder Lagerhäftlingen. Einer lehnt noch leblos an der Wand, ein anderer hat sich sinnlos flüchtend auf eine Leiter zu retten versucht und hängt zusammengesunken nun dort oben über den Sprossen.

Das Ende steht am Anfang. Und langsam erst entdeckt man: In diesen Leichen steckt noch ein Rest von Leben. Eine weiß bandagierte Figur beginnt zu röcheln, ein schmutzig blauer Kleiderknäuel regt sich, Worte, Sätze werden hörbar, vermischen sich zu einem wirren Gemurmel, in dem Fetzen aus dem ersten Akt von Gorkis Nachtasyl hörbar werden.

Das Asyl der Untoten wird begrenzt von einer Glaswand, die die Bühne diagonal zerschneidet: Ist ihr Obdachlosenheim ein Menschengewächshaus? In das Gebrabbel der Unterweltler erklingt plötzlich durch Hall verfremdetes Silbergelächter, Stimmengewirr, und jenseits der durchsichtigen Mauer trippelt eine Schar von Rokokofigürchen herein: weiß von Kopf bis Fuß, beobachten sie kichernd die Blaumänner- und frauen. Eine Hofgesellschaft betrachtet ihren Menschenzoo. Dort die geputzte Herrscherfamilie aus einem Porträtbild Francisco Goyas, hier die dunklen Irrgestalten aus einem seiner Stiche. Doch was ist innen, was außen? Die Schräge des Glasdachs bedeckt den hinteren Bühnenraum. Nicht die Gefangenen da vorne sind drinnen, sondern die Kunstmenschen jenseits der Trennwand. Hinter ihnen wird dann im bunten Licht ein grüner Baum mit roten Äpfeln sichtbar, der Himmel glüht darüber kobaltblau, eine Sonne sticht zinnoberrot. Die Natur lebt nur im Glashaus noch, draußen, wo sie einmal war, vegetieren nur halbtote Menschenstümpfe.

Die Inszenierung Roberto Ciullis verschärft den bei Gorki nur angedeuteten Klassengegensatz bis aufs äußerste. Die weißgepuderten Voyeure sind Gorkis Familie Kostyljow, die Besitzer des Nachtasyls. Ciulli inszeniert nun den ersten bis dritten Akt als Interaktion zwischen diesen zwei Parteien: Weiß gegen Blau. Die Weißlinge passieren die Schleuse und mischen sich unter die Blaumenschen. Der Tod der schwindsüchtigen Anna wird für sie zum genußvoll im Zeitlupentempo begafften Dokumentarspiel. Ihre Liebe ist ausbeuterisch: Kostyljow (weiß) küßt Waska Pepel (blau), als wolle er seine Zunge verspeisen, bespringt ihn wie eine Heuschrecke und rutscht erschlafft an ihm herunter wie eine blutsaugende Mücke nach dem Stich. Nur einmal kommt eine dritte Farbe ins Spiel: Luka, der Pilger, kommt als hoffnungsgrüner Käfer, gespielt von der zierlichen Maria Neumann, hereingeschwirrt. Vor den Bauch geschnallt trägt sie so etwas wie einen kaputten Regenschirm, eine Art Antenne für das Jenseits, aus dem sie tröstende Sprüche empfängt. Der Erlöser ist, wie nicht anders denkbar bie Ciulli, ein Clown, und der Clown ist eine Frau. Aber bald schon wird sie von den weißen Oberherren verjagt.

Schließlich entkleidet Wasslissa (weiß) den schönen Pepel, bindet ihm eine Leine um den Hals, zeigt ihm die nackte Natascha (weiß) mit Schleier als seine Braut und führt ihn durch die Stahlschleuse in die schöne neue Welt der künstlichen Natur. Natascha posiert als aufreizende Dryade in dem hohlen Baum. Doch als dann Kostyljow sich über sie hermacht, reißt sich Pepel von der Leine los, ringt mit ihm, schlägt ihn blutig, tötet ihn. Natascha und die ganze weiße Operngesellschaft fliehen, zurück bleiben der tote Kostyljow und die offene Schleuse. Langsam kommen die schmutzigen Untermenschen herüber in den bunten Kunstraum der Oberschicht, tasten sich nach dieser zufälligen Revolution vor ins Reich der Freiheit, starren ungläubig zurück in ihr Gefängnis, das Reich der Notwendigkeit, das einmal Natur hieß.

So macht die Inszenierung vor der Pause aus Gorkis Nachtasyl einen Symbolort für die Erde nach dem Ende der Utopien, erzählt mit irritierenden Bildern eine Geschichte, die nicht die Gorkis ist, aber unsere, wenn wir Gorki heute lesen — eine Geschichte hoffnungsloser Antinomien: von Verarmung durch Reichtum, Niederlage durch siegreiche Revolution und Zerstörung der Natur durch ihre Rettung.

Nach der Pause ändert sich der Stil der Inszenierung: keine dunklen Rätselbilder mehr, sondern greller Klamauk. Nun sitzen die ehemaligen Untermenschen beim Grillfest im Garten, schmieren sich ein mit Sonnenöl, und aus dem Ghettoblaster tönt Fight the Power. Im Dunkel der Lumpensammlung auf der Vorderbühne quält sich noch ein armer Irrer herum, und die Figur des Schauspielers löst sich aus der Gruppe der satten Wohlstandsmenschen. Er zieht sich aus, hüpft affenartig herum, steigt in den Raum und erhängt sich dort. An diesen letzten Akt des Nachtasyls schließt sich nun Brechts LehrstückDie Ausnahme und die Regel an. Eine Moderatorin kommt mit Mikrophon auf die Bühne und animiert die Partygesellschaft zu einem Stegreifspiel. Hier wird die Inszenierung endgültig zur improvisierten Juxerei. Es wird hemmungslos gealbert, parodiert und gekalauert („Wo ist Osten?“ — „Den Osten gibt's nicht mehr.“). Reinhart Firchows Vertonung der Songs suhlt sich in den Wonnen der Trivialität.

Wie Satins Rede über die Menschlichkeit im Nachtasyl ironisch verquatscht wurde, so wird Brechts Diskurs über Gerechtigkeit in ungerechten Verhältnissen verblödelt. Was aussieht wie Mitleid und Menschlichkeit, ist in einer auf Eigeninteresse aufgebauten Gesellschaft auch nur Selbstsucht, und jemandem uneigennützige Motive zu unterstellen ist einfach unvernünftig. Die instrumentelle Vernunft zerstört im Zeitalter ihrer absoluten Herrschaft die natürlichen und sozialen Grundlagen des menschlichen Lebens.

So endet die Inszenierung zwar in Brechts Appell „Schafft Abhilfe!“, aber nach dieser ekelhaften Heiterkeit ist keine Lösung mehr denkbar. Was wir sahen, war eine Gesellschaft, die ihre eigene Zukunft verspielt hat.

Maxim Gorki: Nachtasyl/ Bertolt Brecht: Die Ausnahme und die Regel. Theater an der Ruhr, Mülheim. Regie: Roberto Ciulli. Bühnenbild: Gralf-Edzard Habben. Musik: Reinhardt Firchow. Weitere Vorstellungen erst in der kommenden Spielzeit.

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