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„Noch ein Toast auf die Flotte!“

Sowjets experimentierten Ende der 50er Jahre auf einem Schiff mit atomarer Strahlung/ Wrack hat Ladoga-See radioaktiv verseucht — und das Trinkwasser der Fünf-Millionen-Stadt Sankt Petersburg  ■ Von Jochen Vorfelder

Sankt Petersburg (taz) — Das schwere Eisentor hängt in rostigen Angeln, die Uhr am Schildhäuschen ist auf fünf vor zwölf stehengeblieben. Doch die Zeichen täuschen. Im Hauptquartier des Sankt Petersburger Flottenstützpunktes in der Oleko-Dunditsch-Straße weht frischer Wind. Der Backsteinbau aus den Zeiten Peter des Großen ist einem schwedisch-russischen Hotel-Joint- venture fest versprochen. In zwei Jahren sollen die Marineleute ausgezogen und die Diensträume in eine Nobelherberge umgebaut sein.

Auch Alexander Pawlowitsch Slawgorodskij, stellvertretender Standortkommandeur und Soldat seit 35 Jahren, wirkt wie verwandelt. Daß Rechercheure von Greenpeace in seinem Allerheiligsten sitzen und unbequeme Fragen stellen, steckt er bei Keksen und warmer Pepsi routiniert weg. Nein, es gibt keine Atomwaffen mehr bei der Baltischen Flotte. Nein, keine trägerfähigen U-Boote mehr, aber ja, die Waffensysteme sind nach Rußland gebracht worden. Keine Gefahr mehr, alles Demokraten hier. „Die Sankt Petersburger Basis stand während des Putsches geschlossen hinter Boris Jelzin“, versichert der Altkommunist. Die Zeiten hätten sich geändert, die Marine habe jetzt keine Geheimnisse mehr. Und als Zeichen der neuen Offenheit tischt er eine unglaubliche Geschichte auf: Das Trinkwasser für die fünf Millionen Bewohner von Sankt Petersburg wurde 30 Jahre lang über den Newa-Fluß aus dem Ladoga-See gewonnen, obwohl dort ein radioaktiv verseuchtes Schiffswrack lag. Erst 1991 habe es die Marine weggeräumt. „Sie sehen also, wir nehmen Umweltschutz ernst.“

Als die Sowjets Ende der 50er Jahre an der Entwicklung ihrer Atomwaffen laborierten, wurden bei der Baltischen Flotte die Auswirkungen radioaktiver Strahlung getestet. Hunde, Katzen, Pflanzen und Nahrungsmittel wurden dabei unterschiedlich hohen Dosen von Alpha-, Beta- und Gammastrahlung ausgesetzt. Als streng abgeschirmte Teststation wurde im Ladoga-See, rund 90 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt, ein Beuteschiff aus dem Zweiten Weltkrieg benutzt: ein deutsches Torpedoboot der Kriegsmarine, rund 90 Meter lang und etwa 1.500 Bruttoregistertonnen schwer.

Unterlagen verschwunden

„Welche Art von Versuchen genau gemacht wurden, wissen wir heute nicht mehr. Die Unterlagen sind nicht zu finden“, behauptet Slawgorodskij. Sicher sei nur, daß die Strahlenwerte so extrem hoch gewesen seien, daß man damals nach Abschluß der Tests das schwimmende Strahlenlabor schnellstmöglich loswerden wollte — und es mitten im Ladoga-See, 12 Seemeilen westlich der Insel Valaam, auf Grund setzte. Slawgorodskij: „Die Gegend war damals relativ unbewohnt, aber ich bin mir auch nicht sicher, ob es Absicht war. Es war noch Diesel in den Tanks. Vielleicht ist das Schiff einfach dort zurückgelassen worden und gesunken.“

Gesunken oder versenkt — das verstrahlte Torpedoboot hat drei Jahrzehnte lang den Ladoga-See und die Newa radioaktiv belastet, deren Wasser durch Sankt Petersburg in die Kronstadter Ostseebucht fließt. Ohnehin ist der Zustand der Kloake besorgniserregend. Das Wasser schwemmt hochgiftige Chemikalien aus Papierfabriken, Düngemittelwerken und Viehmastställen rund um den Ladoga-See in die Stadt. Im städtischen Krankenhaus von Sankt Petersburg werden derzeit pro Monat mehrere Patienten behandelt, die Fisch aus der Newa gegessen oder vom Leitungswasser getrunken haben. Die Stadt wird zu 100 Prozent aus Uferfiltrat oder direkt aus dem Fluß versorgt; die Kläranlagen können die Brühe kaum filtern.

„Die Flotte handelte“

„Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie hoch die radioaktive Belastung war, die tatsächlich in Sankt Petersburg ankam. Sagen wir einfach, sie hat internationale Grenzwerte um das Zehnfache überschritten“, redet sich Slawgorodskij heraus. „Aber die Leute hier waren besorgt, und da hat die Flotte gehandelt.“ Er lächelt jetzt wieder.

Innerhalb von zwölf Monaten wurde der strahlende Rumpf von Wissenschaftlern und Spezialisten der Baltischen und Schwarzmeerflotte gehoben, leergepumpt und in einem Schwimmdock mit einem Kunstharzüberzug versiegelt. Die Aufbauten und Räume, in denen die Versuche stattgefunden hatten, wurden speziell abgedichtet, das abgepumpte Wasser und die Treibstoffe an Bord gefiltert, eingedickt und verbrannt. „Daß die Operation ohne Probleme verlaufen ist, ist auf speziell entwickelte Techniken der Marine zurückzuführen“, erzählt der stellvertretende Kommandierende.

An anderer Stelle, ergaben Greenpeace-Recherchen, ist man mit radioaktiven Abfällen weniger sorgsam umgegangen. Als 1967 bei einer Wartungsroutine an Bord des atomgetriebenen Eisbrechers „Lenin“ ein Reaktor schmolz, wurde der strahlende Klumpen in einer Bucht vor Nowaja Semlja im flachen Wasser versenkt. Die Insel in der Barentssee nördlich von Murmansk diente den Sowjets seit Jahrzehnten als atomares Testzentrum. Am 30.Oktober 1961 etwa explodierte dort eine 58-Megatonnen-Bombe: der größte Sprengsatz, der je die Welt erschütterte. Die Folgen der über 100 Atomtests sind erschreckend: Auf dem Festland gegenüber der Insel ist die Sterberate an Speiseröhrenkrebs weltweit am höchsten, Leberkrebs liegt zehnfach über dem russischen Landesdurchschnitt.

Slawgorodskij blickt auf die Uhr, die Audienz ist zu Ende: „Ich hoffe, unsere Antworten haben Sie befriedigt.“ Noch ein Toast auf die Flotte, noch ein Wodka, dann geht es zur Tür. „Sagen Sie, Alexander Pawlowitsch: Was ist eigentlich mit dem Schiff aus dem Ladoga-See geschehen?“ Slawgorodskij zögert kurz, dann zeigt er mit dem Finger auf eine riesige Landkarte: „Hier, es wurde durch diese Kanäle nach Norden gezogen.“ Und wo liegt es jetzt? „Es ist entsorgt. Wir haben es wieder versenkt. Vor Nowaja Semlja.“

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