: Die fünfte Himmelsrichtung
Drei Untersuchungen über „Renegaten“ und ihre Literatur, drei Materialangebote und drei Perspektiven. Eine Sammelrezension ■ VONKARL KRÖHNKE
1990/91 wurde in einer taz- Artikelserie über die „Renegaten“ des Kommunismus diskutiert: jene Aktivisten oder sympathisierenden Anhänger, die der „großen Sache“ (als es sie noch gab) den Rücken gekehrt oder doch der Partei, die dieser Sache waltete, den Gehorsam aufgekündigt haben.
Zwischenzeitlich sind nun nicht nur zahlreiche weitere Bekenntnisschriften ehemals Gutgläubiger veröffentlicht oder wiederveröffentlicht worden; es sind auch einige gelehrte Untersuchungen zu diesem Themenkreis herausgekommen — mit ganz unterschiedlichen Leistungen, Vorzügen und Schwächen.
Alle drei hier vorgestellten Bücher sind keine politischen, sondern literaturwissenschaftliche Abhandlungen — was Wunder: waren doch die Orwell, Koestler, Sperber, Silone, Regler, Kantorowicz, um die es da geht, vor und nach ihren politischen Wendungen Literaten oder sind es — laut Michael Rohrwasser in Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten typischerweise, fast zwangsläufig — in der Verarbeitung ihres weltanschaulichen Bruchs geworden.
Ein nützlicher, aber allzu braver Einstieg
Grundlegende Informationen zu den prominenten Abtrünnigen der dreißiger Jahre, ihren Zeit- und Lebensumständen, Gehalt und Tendenz ihrer Memoiren bietet die Arbeit von Gabriele Fritz-Ullmer Auseinandersetzung antifaschistischer Exil- Schriftsteller mit dem Problem des Stalinismus in Autobiographien der Nachkriegszeit. Es ist — wie sich schon in dem betulichen Titel des Buches niederschlägt — von den drei hier vorgestellten die am wenigsten inspirierte, „bravste“ Arbeit. Konzentriert auf ihr akademisches Thema und bis zu Goethe zurückblickend, bringt sie dem Kenner der Materie nirgendwo Neues. Aber sie bietet, was namentlich Rohrwasser sich geschenkt hat: Einführung und Überblick für „Einsteiger“ in das Thema, auch historische Daten und Fakten — freilich nicht viel anders, als sie etwa im dtv-Atlas zur Weltgeschichte nachzulesen wären. Die Autorin beklagt die Indienstnahme der fixierten Lebenserfahrungen durch die Fronten des Kalten Krieges, bleibt aber dessen Blocklogik insofern verhaftet, als sie den Ideen der Querdenker zwischen den Lagern weniger Aufmerksamkeit schenkt als eben den Mechanismen der Funktionalisierung und Vereinnahmung.
Geschichtsschreibung als Vorwurf
Bei Hermann Kuhn, dessen Buch Bruch mit dem Kommunismus im ganzen interessanter ist, bekommt diese Verengung des Blicks geradezu Methode. Er will zeigen, daß die besondere Situation in Deutschland, wo auf die NS-Diktatur sehr bald die Teilung mit ihren Zwängen und Denkmustern folgte, eine differenzierte Aufarbeitung der autobiographischen Erfahrung gewesener Kommunisten verunmöglichte. Nicht allein, daß die Rezeption dem eigentlichen Anliegen dissidenter Autoren nicht gerecht wurde — den Texten selber haben sich die Aporien und Häßlichkeiten der Konfrontation von West und Ost markant eingeschrieben. So weit, so gut. Nur: Kuhn klammert aus, was nicht ins Bild paßt. Er eröffnet seine Darstellung mit dem ominösen Werk von Karl Albrecht: Der verratene Sozialismus. Zehn Jahre als hoher Staatsbeamter in der Sowjetunion, erschienen 1938 im nazistischen „Nibelungen“-Verlag der sogenannten „Anti- Komintern“! Kuhn: „Der autobiographische Bericht von ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Partei betritt in Deutschland die Bühne als sozialistisch drapierte, aber offen faschistisch genutzte Kampfschrift.“ Aber: schon seit Ende der zwanziger Jahre gab es zahlreiche Schriften — wenn auch zunächst mehr Reisereportagen und politische Essays denn autobiographische Berichte —, deren kritische Stellungnahme zu Kommunismus und Sowjetunion keineswegs „offen faschistisch“, sondern bürgerlich- konservativ, linksliberal, abweichend-marxistisch (zum Beispiel trotzkistisch) oder auch anarchistisch war. Zur Erinnerung verweise ich nur einmal mehr auf den frühen Renegaten Panait Istrati oder auch auf behutsam abwägende Wortmeldungen wie Hans Siemsens Reisebuch Rußland — ja und nein (Rowohlt 1931), auf kontroverse Diskussionen in der 'Weltbühne‘ und ähnliches mehr.
Man muß die Beiträger und Beiträge zu dem Sammelband von 1950 Ein Gott, der keiner war (Silone, Louis Fischer, Gide u.a.) und namentlich Arthur Koestler nicht sympathisch finden, aber es geht nicht an, ihren Antikommunismus als so reaktionär und „rechts“ abzutun, daß einen linksgesinnten Intellektuellen quasi der Ekel von der Lektüre abgehalten hätte. „Angesichts der Erfahrung von Faschismus und Restauration“, liest man im Werbetext zu Hermann Kuhns Buch, „schien es lange keine Alternative zum Weg und Modell der kommunistischen Partei zu geben.“ Wem schien das so? Dem Verfasser. Und so liest sich denn Kuhns Buch über weite Strecken wie eine Rechtfertigung, die Botschaft der Renegaten über Jahre und Jahrzehnte mißachtet zu haben: Text und Kontext, suggeriert er, waren nicht einladend. Doch will der Rezensent nun nicht mit dem Autor, von dem eine editorische Notiz mitteilt, er habe ehedem dem Maoismus angehangen, in „Kritik und Selbstkritik“ wetteifern — denn auch das war ja ein abstoßendes Ritual kommunistischen Parteilebens.
Kuhn will weniger eine Typologie als eine Geschichte der Renegaten- Memoiren schreiben, wobei bestimmte historische Perioden die für sie charakteristischen Autobiographien hervorgebracht haben (zum Beispiel das Tauwetter 1956 beziehungsweise die Enttäuschung über die neuerliche Vereisung). Daß die Beschränkung auf publizierte Lebenserinnerungen deutscher Autoren nach 45 methodisch fragwürdig ist, wurde schon deutlich. Die Diskussion des Auslands und des deutschen Exils um André Gides Rußlanderfahrung, um die Schauprozesse 1936-38, um den Hitler-Stalin-Pakt bleibt damit als kaum gestreifte „Vorgeschichte“ außen vor. Damals aber, beginnend spätestens mit den Erfahrungen des spanischen Bürgerkrieges, fand — wie Michael Rohrwasser nachzeichnet — die „Geburt des Renegaten“ statt, seit damals waren warnende Stimmen vernehmlich hörbar: Stimmen unorthodox suchender Intellektueller und nicht nur der finsteren Reaktion.
Ein Gutes hat der von Kuhn gewählte Zeitrahmen: ausführlich stellt er neben den Erinnerungen von Buber-Neumann, Leonhard, Heinz Brandt die bisher noch kaum aufgearbeiteten jüngeren Veröffentlichungen von Exkommunisten vor: von Loest und Zwerenz über Ralph Giordano zu Jürgen Fuchs und Helga Novak. Auch zum theoretischen Verständnis all dieser Texte trägt er einiges bei, insbesondere veranschaulicht er die besondere Ausformung, die das altbekannte Erkenntnis- und Darstellungsproblem aller autobiographischen Schriftstellerei bei den „Abtrünnigen“ enthält: die Identität und Nichtidentität von erinnerndem und erinnertem Ich stellt sich ihnen als die Aporie, die kommunistische Bewegung gründlich verurteilen und gleichzeitig ihre vormalige Anziehungskraft glaubhaft machen zu müssen; als Notwendigkeit, nach zwei Seiten zugleich zu argumentieren: den früheren Genossen glauben sie die Erklärung schuldig zu sein, warum sie weggehen und wieso (schon) jetzt; der „bürgerlichen“ Öffentlichkeit, was sie solange bei der Stange gehalten hat.
In diesem letzten Punkt aber hat Hermann Kuhn noch manchen Vorwurf parat. Von seinem ersten Zeugen, Koestler, bis zu Valentin Senger, seinem letzten, wirft er den Autoren vor, ihr früheres Engagement allein auf ihren späteren Bruch hin zu beschreiben und kaum mehr plausibel zu machen, welche politischen Überzeugungen sie seinerzeit bewegt haben. Denn diese Überzeugungen hatten doch sehr viel für sich.
Applaus von der falschen Seite?
Allenthalben konstatierte Kuhn eine Entpolitisierung, Enthistorisierung und Psychologisierung der früheren Motive, was er nicht billigt. Bevorzugt lesen will er von „objektiven gesellschaftlichen Ursachen“, „konkreten Gründen für eine bestimmte soziale und politische Umwälzung“; aber was er lesen muß, ist allzuoft die Beschreibung des individuellen Verhältnisses zur Partei „als eine Art emotionaler Beziehung“. Dies aber gestatte „einen ungehemmten Angriff auf den organisierten Kommunismus, ohne sich politisch auseinandersetzen zu müssen“.
Nun ist es gewiß sinnvoll, gegen allerlei Mystifikationen nüchterne Analysen (meinetwegen: materialistischer Art) einzufordern. Aber die Ebene, auf der Kuhn die Diskussion belassen möchte, hat sich immer wieder als ungeeignet erwiesen, zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen. Denn wenn es simpel das Engagement gegen Hunger, Ungerechtigkeit und Repression war, was die Parteimitglieder umtrieb, ist doch ebenso simpel zu fragen, wieso so mancher, der in der Sowjetunion und zum Teil gar in ihren Arbeitslagern dieselben oder ärgere Nöte mit eigenen Augen gesehen hat, davon lieber schweigen wollte, als für einen „objektiven Handlanger des Monopolkapitals“ gehalten zu werden. Die Angst, ein Verräter an der eigenen Gruppe zu sein oder so wahrgenommen zu werden, scheint eine ungemein tief sitzende Furcht zu sein — die meisten „Renegaten“ hat sie den Bruch über Jahre hinauszögern lassen: solchen Zusammenhängen wird man ohne die Psychologie nicht beikommen.
So gilt bemerkenswerterweise von Kuhns Darstellung dasselbe, was von so vielen Autobiographien, die er seziert hat, zu sagen ist: die Furcht, von der falschen Seite Applaus zu bekommen, hat eine wirklich radikale Reflexion verhindert.
Erhellendes zur Verdammungs- Terminologie
Daß man „dem Wortfeld des Glaubens, der Religion und der Kirche als Metaphern, ja als Erklärung für politisches Handeln der Partei und in der Partei“ in den Schriften der Exkommunisten oft begegnet, wird von Hermann Kuhn indigniert festgestellt. Dies aber führt uns zu Michael Rohrwasser, der sich das „Wörterbuch der Verdammungen“ auch bei der Gegenseite, der Partei, betrachtet hat und feststellen muß, daß man sich da eines Vokabulars bediente, dessen kirchengeschichtliche (Ketzer, Apostat, Konvertit, Häretiker, Judas) oder militärhistorische Tradition (Deserteur, Verräter) ohne erkennbare Irritation beerbt wurde. In anderen Lagern wurden die Säuberungen mit Inquisition und Hexenprozessen sehr pauschal gleichgesetzt; Rohrwasser zeigt die Parallelen und Unterschiede. Auch er sieht die Gefahr, den Stalinismus zu enthistorisieren, will aber nicht die „religiösen Komponenten der kommunistischen Bewegung“ übersehen.
Das Kapitel über die Herkunft der Verdammungsterminologie gehört zum Besten seiner Arbeit (selbst der Begriff der „Fünften Kolonne“, erfahren wir, stammt aus der Römerzeit) wie auch der Abschnitt über den sozialpsychologischen Mechanismus der Ausgrenzung des Verräters zur „Konsolidierung der Eigengruppe“. Es fällt schwer, auch nur im Überblick aufzulisten, was Rohrwassers Buch alles bietet: da sind die historischen Ereignisse der dreißiger Jahre, die für viele „Renegaten“ zumindest im Rückblick als Wendemarken beschrieben werden: der Spanische Krieg, die Moskauer Prozesse, der „Pakt“. Da wird gezeigt, wie nahe sich Saulus und Paulus sind: wie der schon unsicher Gewordene seine Zweifel durch heftige Ausfälle gegen Abweichler betäuben will und nach seinem Bruch oft genug die selbstverfaßten Schmähungen um die Ohren geschlagen bekam. Im engeren Sinn literaturwissenschaftlich sind die Überlegungen zu Alfred Kantorowicz' eigenartigen Tagebüchern (freilich kann auch Rohrwasser nicht klären, wieviel davon tatsächlich auf frühe Eintragungen in Notizbüchern zurückgeht, wieviel nachher zur Umdeutung der eigenen Rolle dazugetan oder weggelassen wurde). Da werden einzelne in Renegatentexten auffällige Metaphern und typische Strukturen analysiert, und der überbordende Anmerkungsapparat ist so etwas wie ein Schatzhaus kaum bekannter historischer und biographischer Details, provokanter Thesen, verblüffender Einsichten. Von hohem Gebrauchswert sind auch das umfassende Literaturverzeichnis und die Kurzviten von 37 „Verrätern“.
Und doch — seinen zentralen Anspruch löst Rohrwasser allenfalls in Ansätzen ein: all diese Texte aus den Rastern von Funktionalisierung und Denunziation zu lösen, die „Renegaten“ einmal nicht als Zeugen, sondern als Schriftsteller zu betrachten. Denn es fällt ja sogleich auf, daß die prominenten, repräsentativen Dichter dieser Gruppe — Orwell, Silone, Koestler, Sperber, Regler — und speziell ihr poetisches Werk nicht in der ihnen zukommenden Ausführlichkeit behandelt werden. Im Mittelpunkt stehen Außenseiter, die nur in zweiter Linie belletristische Schriftsteller zu nennen wären: die Agenten Krivitsky und Richard Krebs/Jan Valtin; Robert Bekgran, der 1938 in New York die Zeitschrift 'Gegen den Strom‘ herausgab und den Rohrwasser selber als ganz untypisch bezeichnet; und auch der eigenwillige Arbeiterdichter Georg K. Glaser vertritt niemand und nichts außer sich selbst.
Ein Rahmen für die Lieblingsrenegaten
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Rohrwasser habe nicht eigentlich eine Gesamtdarstellung, sondern eher einen Rahmen geschaffen, all seine Forschungen über seine Favoriten — jene exkommunistischen Individualisten, die durch die Maschen der Exilforschung gefallen sind — zusammenzupacken. Renergatenliteratur als „Gattung“ im Sinne der Literaturwissenschaft erweisen zu wollen — wie das Rührstück, der Bildungsroman oder die Gespenstergeschichte —, greift ohnehin, scheint mir, zu hoch, zu weit und daneben.
Rohrwassers Buch ist von der streng didaktischen Attitüde etwa Hermann Kuhns wohltuend unterschieden. So nimmt der Leser auch Fragmentarisches und Ungeordnetes hin. Rohrwasser, der ja schon 1975, als man damit in der „Szene“ noch aneckte, den linken Kitsch der proletarischen Romane der Weimarer Republik („Saubere Mädel, starke Genossen“) thematisiert und 1980 das erste, wohl nach wie vor einzige kritische Portrait Johannes R.Bechers verfaßt hat, hat mit seinem neuen Buch vielleicht noch nicht die Geschichte der Renegatenliteratur vorgelegt, sicher aber ein „Standard“-Werk, an dem man auf diesem Gebiet nun nicht mehr vorbei kann.
Von Georg K.Glaser, für den er manche Lanze bricht und den man tatsächlich mehr lesen — und mehr drucken! — sollte, stammt folgende, Die fünfte Himmelsrichtung überschriebene Reflexion über den Bruch mit dem Kommunismus: „Mit fliegenden Pulsen fragte ich mich: warum nicht noch einmal wagen? Meinen arbeitslosen Mut, ziellosen Glauben, Willen und Bereitschaft zu leiden, zusammennehmen und von neuem einen Weg einschlagen; keinen Ausweg, einen Weg, von dem noch keiner zurückgekommen ist. Vielleicht mußte ihn von Zeit zu Zeit einer gehen, von dem man lange nachher eine Botschaft wie eine Flaschenpost fand...“ Manès Sperber, der als junger Mann jegliche Warnung in den Wind geschlagen hat, litt als alter Mann darunter, daß die „68er Studenten“ seine Warnungen ignorierten. Jetzt aber, spät, scheint die Flaschenpost angekommen. Aber wo sind die Rebellen geblieben, für die sie gedacht war?
Gabriele Fritz Ullmer: Auseinandersetzung antifaschistischer Exil- Schriftsteller mit dem Problem des Stalinismus in Autobiographien der Nachkriegszeit . R.G.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989, 471 Seiten, 48DM
Hermann Kuhn: Bruch mit dem Kommunismus. Über autobiographische Schriften von Ex-Kommunisten im geteilten Deutschland . Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1990, 325 Seiten, 39,80DM
Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten . J.B.Metzler-Verlag, Stuttgart 1991, 412 Seiten, 78DM
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