: Harlem Desir gründet Graswurzel-Partei
„Die Bewegung“ des SOS-Rassimus-Chefs prangert Frankreichs Establishment und soziale Probleme an ■ Aus Paris Bettina Kaps
Wut über die wachsenden sozialen Probleme in Frankreich und Ärger über die Untätigkeit der Regierung und der großen Parteien — aus diesen Gefühlen heraus hat der 32jährige Harlem Desir, Chef der Bewegung SOS-Rassismus, die Gründung einer Partei beschlossen. „Das System ist völlig blockiert: Die Leute, die vor Ort etwas bewegen, werden von den Entscheidungsträgern nicht gehört. Bei den Politikern stoßen wir auf völlige Intoleranz und freundlichen Zynismus. Deshalb wollen wir die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen“, sagte Desir gestern. Anfang September soll die neue Partei mit den Namen „Le Mouvement“ (Die Bewegung) die Arbeit aufnehmen.
Die großen Werte lauten „Gleichheit und Brüderlichkeit“. Desir: „Wir können uns nicht zufriedengeben, so lange es in Frankreich 400.000 Obdachlose gibt. In bestimmten Vierteln sind ein Drittel aller Jugendlichen unter 25 Jahren arbeitslos — das werden wir bald teuer bezahlen müssen. Wer heute im Vorstadtghetto groß wird, hat keine Chance, da jemals rauszukommen.“ Desir appellierte an alle Gruppen, die an der Basis arbeiten, sich der „Bewegung“ anzuschließen. Anstelle der „ENArchen“, der Abgänger der elitären Kaderschmiede ENA, die Politik und Gesellschaft beherrschen, wolle er Leute, die „die ENA der Straße gemacht haben“.
Desir will sich für Europa stark machen: „Europa muß die nationalen Egoismen beenden und seine Kapazitäten auch in den Dienst der dritten Welt stellen“. Einsparungen im Verteidigungshaushalt sollten Bildung, Gesundheit und Umwelt zugute kommen. Der Militärdienst solle auf sechs Monate gekürzt werden. Das Budget für Stadtentwicklung müsse gewaltig angehoben werden. In den Stadtvierteln sollten die EinwohnerInnen einen Rat wählen, der Mitsprache bei allen Investitionen haben müsse.
Desir und seine Anhänger haben sich ehrgeizige Ziele gesteckt: Obwohl kleine Parteien durch das Mehrheitswahlrecht praktisch keine Chancen haben, wollen sie bereits bei den Parlamentswahlen im März etwa 50 Kandidaten aufstellen. Mehr Gewicht legen sie allerdings auf Europawahlen und französische Kommunalwahlen 1994.
SOS-Rassismus soll fortbestehen, auf der nächsten Tagung im Oktober könnte Desir jedoch seinen Rücktritt als Vorsitzender erklären. SOS-Rassismus, 1984 von Jugendlichen der „Generation Mitterrand“ gegründet, steckt seit dem Golfkrieg in der Krise: Die Gruppierung hatte sich gegen französische Kriegsbeteiligung ausgesprochen. Sie verlor die Unterstützung der Sozialisten; prominente Mitglieder wie der Philosoph Bernard-Henri Levy und der Mitterrand-Freund und Geldgeber Pierre Berge traten aus.
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