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Das Ende vom Schraubenzählen

Eine Reise in Provinztheater der ehemaligen DDR/ Zweite Folge: Stendal in Sachsen-Anhalt (Nord)  ■ Von Klaus Nothnagel (Text) und David Baltzer (Fotos)

In den ersten Tagen meiner Arbeit hier ging ich die Werkstätten des Theaters besichtigen“, erzählt Erdmut C. August. „Ich kam an eine verschlossene Tür; man mußte auf einen Klingelknopf drücken, dann wurde von innen geöffnet. An einem Tisch saß eine junge Dame, die hatte lauter Karteikarten vor sich und stempelte und hakte ab und rechnete. Ich fragte: 'Was machen Sie hier?‘ — 'Ja ... ich bin hier die Ausgabe! Ich gebe zum Beispiel eine Bohrmaschine aus!‘“

Schreiner, Schlosser, Schneider — alle mußten zur Dame mit den Kärtchen; bis im März'91 E.C. August aus dem Westen kam, neuer Stendaler Intendant wurde und beherzt die östlichen Mißstände an der Wurzel packte. Und August fragte weiter: „'Was haben Sie dann jetzt gerade? Drei ... und sechs und zwölf?‘ Das waren Schrauben. Diese Frau gab da abgezählt einzelne Schrauben aus und führte Buch darüber. Da habe ich gesagt: 'Wissen Sie was: so leid mir das tut, Ihr Arbeitsplatz hat soeben aufgehört zu existieren!‘“ Der jungen Dame wurde eine Stelle als „Reinigungskraft“ angeboten, sie lehnte ab und wurde entlassen.

Intendant August, der vor seiner Stendaler Amtszeit zehn Jahre lang in Osnabrück Theaterchef war, erzählt Anekdoten dieser Art lächelnd und mit leisem Seufzen. Der Job in Stendal hat ihn wegen der „Herausforderung“ gereizt, „ein Haus, das von den Strukturen, den Organisationsformen her vollkommen am Boden lag, neu aufzubauen“. Für Ost- Theaterleute hat er schon früher ein Faible gehabt, aus Qualitätsgründen. Nur gehen die heute lieber nach Frankfurt am Main (oder gar nach Osnabrück), aus Geldgründen. Seit Spielzeitbeginn 1991/92 hat August versucht, die Schraubenzählerei zu beenden und Leute einzustellen, die imstande sind, neben ihrer abgegrenzten Tätigkeit „Verantwortung fürs Ganze zu übernehmen“. Was das betrifft, löst der Intendant seine Ansprüche auch selber ein: Seit einem Jahr macht er nebenher die Arbeit des Verwaltungsdirektors — eine Notlösung, die dem Intendanten aber auch mehr Macht verschafft, um das Haus von überflüssigen Stellen zu befreien, Strukturveränderungen durchzusetzen, kurz: das „Theater der Altmark Stendal“ fürs westliche Subventionswesen kompatibel zu machen.

Junge Leute gesucht

Erdmut C. August, Jahrgang 1931, war jahrzehntelang Dramaturg an Häusern wie Bremerhaven, Wiesbaden, Kiel, Münster. Außer diesen Erfahrungen qualifiziert ihn auch sein Naturell für die Leitung eines Theaters: Er ist ein ruhiger, kontrollierter, freundlicher Herr, hinter dessen beherrschtem Ausdruck man sich altväterliche Güte ebenso vorstellen kann wie marktwirtschaftliche Coolness. Aus Erfahrung weiß August, was für Leute als Haushofmeister eines Intendanten, als Dramaturgen gebraucht werden. Chef dieser Abteilung wurde also Dietmar Goergen, jahrelang Leiter und Hausregisseur des Berliner Off-Theaters „Freies Schauspiel“. In Berlin-Neukölln hat Goergen gelernt, wie sich ein kleines Theater ohne nennenswerte Gelder über Wasser halten läßt. Und auch die PR-Erfahrungen, die der clevere Vermarkter Goergen als Off-Theaterleiter gemacht hat, kann das Stendaler Theater gut gebrauchen. Daß der neue Chefdramaturg dann auch inszenieren durfte, war nach Auskunft des Intendanten August „nicht geplant und wird auch eine Ausnahme bleiben“. Georgens Produktion, ein kabarettistisches Drei-Frauen-Stückchen, war kein Erfolg beschieden.

Der zweite Mann in der Dramaturgie heißt Dr.Johann Jakob Basin von Düffel, ein flotter, energetischer 26jähriger, aus dessen kantigem Gesicht die Augen leuchten vor Arbeitslust. Studiert hat er Philosophie, Germanistik, Volkswirtschaft; Promotion mit 23, anschließend drei Jahre lang unter anderem Theaterkritiker und Hörspielautor. In Stendal bewarb er sich, weil Intendant August auf die Idee gekommen war, per Inserat in 'Theater Heute‘ nach neuen Leuten zu suchen. „Ich fand eine Anstellung in Stendal von der Situation her so kurios“, erzählt Düffel, „ich konnte mir das absolut nicht vorstellen. Ich kam im ICE von Freiburg — und dann bimmelte plötzlich diese Reichsbahn hier durchs flache Land!“ Daß Düffel dann doch in Stendal anfing, lag nicht zuletzt an der Person des Intendanten: „Wenn man diese Lachfältchen um die Augen sieht — er ist einfach dieser Jacques-Tati-Typ. Fand ich sympathisch. Und dann hat er mir noch gesagt, er würde sich besonders um junge Leute kümmern. Das ist ja auch gar nicht anders möglich, denn nur Leute, die am Anfang ihrer Laufbahn sind, kommen hierher!“

Früher, zu DDR-Zeiten, sind wohl auch noch Angehörige anderer Berufssparten nach Stendal gekommen. Eine gräßliche Neustadt wurde hochgezogen, in der auch das Theater ein modernes Domizil finden sollte. Aus dem neuen Stendal wurde nichts; die Fabrik, die den Leuten Arbeit geben sollte, blieb in den Startlöchern stecken. Garant der Stendaler Zukunftshoffnungen hatte, ausgerechnet, ein Atomkraftwerk sein sollen.

In fünfzig Jahren ist alles vorbei

Stendal liegt ungefähr in der Mitte zwischen Berlin und Magdeburg — und wird von beiden gleichermaßen wenig beachtet. Irgendwann vielleicht wird die Johann-Joachim- Winckelmann-Gesellschaft von Berlin in die altmärkische 48.000-Einwohnerstadt ziehen, denn der große Antikenforscher war Stendaler. Und der Autor des Romans Rot und Schwarz gab sich aus Verehrung für Winckelmann den Künstlernamen „Stendal“. Dann gibt es noch den legendären Coupletsänger Otto Reutter (In fünfzig Jahren ist alles vorbei), dessen Andenken das Stendaler Theater mit einem Abend im Rangfoyer pflegt und dessen Zwanziger- Jahre-Verse manchem Stendaler heute höhnisch passend vorkommen müssen: „Ich find' die heutge Zeit viel feiner/ Zwar komm' wir aus der Teurung nicht mehr raus/ Doch dafür wird der Lohn bedeutend kleiner/ So gleicht sich alles wieder aus!“ Otto Reutter kommt aus Gardelegen, einem kleinen Kaff etwa fünfzehn Kilometer vor Stendal.

Der junge Dramaturg von Düffel sagt zu Gardelegen versehentlich und hartnäckig „Gradelegen“. Noch trefflicher wird die zufällige Anspielung im Zusammenhang mit Otto Reutter, wenn der Hauskabarettist des Stendaler Theaters, Diethard Quednau, sein Programm um Otto Reutter Nehm Se 'n Alten! nennt — Quednau ist einer der wenigen Alten an diesem Haus, ein „Ostschauspieler“. Auch sein baumlanger unerschütterlicher Pianist, Herr Bischoff, hat schon zu DDR-Zeiten Musik gemacht — unter anderem lange Jahre auf staatseigenen Erholungsdampfern. Das Publikum des Kabarettabends ist durchweg älter als fünfzig; diese Leute haben hörbar Spaß daran, daß Quednaus Kabarett am Stil, am Humor, an ideologischen Vorgaben der späten fünfziger oder frühen sechziger Jahre klebt. Macht nichts — immerhin werden zwischen den unwitzigen Texten des Stendaler Hauskabarettisten die großen Otto-Reutter-Couplets gesungen. Otto Reutter aus „Gradelegen“.

Als Fremder in der kleinen Stadt Stendal anzukommen, ist ein Erlebnis der herben Art: Die architektonisch und sozial öde Stadt mit ihren vielen toten, in Richtung Grundmauern weggammelnden alten Häusern, ihren geschlossenen Restaurants und ihren schäbigen neuen Imbißhütten ist der denkbar traurigste Kontrast zur Landschaft, die man auf der Landpartie von der Berlin-Magdeburger Autobahn aus durchlebt. Lange Alleen, laubenförmig, manchmal hinter einem Hügel plötzlich mit einem Kirchturm genau in der Fluchtline. Straßen, die in ein paar Jahren vermutlich dem Schnellpisten-Wahn von Verkehrsminister Krause und ähnlich mediokren Büroschurken zum Opfer fallen. Im Ort Genthin ein kleiner, nicht sonderlich florierender Rummel mit echten alten DDR-Prämien für gutes Schießen. Merkwürdige Ortsnamen, die oft nach Theodor Fontane klingen: Jerichow und Burg — sowie Tangermünde mit seiner Fontanefigur Grete Minde, deren legendäre Brandstiftung jedenfalls noch viele schöne, norddeutsch-schlichte Backsteinbauten unbeschadet gelassen hat.

In Stendal dann, der größten und traurigsten Stadt der Altmark, erwartet man kaum, noch lebende Bewohner zu treffen. Im Hotel am Bahnhof, einem recht jämmerlichen Schuppen, wird man von der Abendkellnerin noch angeherrscht wie in alten DDR-Zeiten. Schöne, womöglich gar neue Restaurants gibt's nicht. Wer jetzt auf's Stendaler Theater zugeht, möchte am liebsten umkehren, ohne hineinzugehen: Es sieht aus wie eine provisorische AOK-Baracke in einem notleidenden Millionenstadtbezirk. Immerhin hat der „Kaisersaal“, ein angegliedertes Restaurant mit Kantinenfunktion, gewisse Spurenelemente von innenarchitektonischer Ästhetik zu bieten. Und, ganz landesuntypisch, strahlend freundliches, die Künstler innig liebendes Personal. Die Kantine des Theaters ist, in der heruntergekommenen Stadt, noch viel mehr Zentrum des theatralen social life als anderswo. Keine Kneipe in der Stadt hat so lange geöffnet und ist so vergleichsweise gemütlich und preiswert. Daß die Wirtin dieser Kantine alten Stils den Rotwein „Côte du Rhône“ immer wie „Kotte Röhn“ ausspricht, stört da gar nicht weiter. „Wir haben hier schon manche Schauspielerin getröstet“, sagt das Wirtsehepaar und ist sichtlich stolz darauf, für die Theaterleute dasein zu können.

„Drucktechnisch und öffentlichkeitsarbeitsmäßig versiert“ müssen

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Dramaturgen sein, die bei Intendant E.C. August arbeiten wollen. Der junge Herr von Düffel übertrifft solche Anforderungen noch um einiges. Er bestückt nicht nur unter mehreren, sämtlich aus seinem langen Namen gebildeten Pseudonymen das theatereigene Magazin mit munter und gemeinverständlich geschriebenen Ankündigungstexten, sein gegenwärtiger Traumberuf umfaßt weiter: „Stückfassungen schreiben, Konzeptionsproben vorbereiten, vorliegende Stücke lesen, Voten über Stücke schreiben und an eigenen Theatertexten arbeiten.“ Privatleben kommt dabei kaum vor, „war nicht eingeplant und ist auch nicht eingetreten“.

Die Menge an Arbeit, die er zu bewältigen hat, bringt ihn gelegentlich zum Stöhnen — aber was er zu machen hat, gefällt ihm. „In Stendal kann man nur arbeiten; es gibt ja auch so gut wie nichts, was einen ablenken könnte“, sagt er. „Kino gibt es gegenüber vom Theater, aber nur im Sommer, weil der Kinsoaal nicht beheizbar ist.“ Daß man im kleinen, häßlichen Dramaturgie-Büro vor Schreibtischen kaum den Boden sieht, oder daß der neue Dramaturg aus dem Westen seine private moderne Schreibmaschine benutzen muß — egal! Ganz besonders fängt der Allround-Düffel an zu glühen, wenn es um geplante Sahnehäubchen im Stendaler Spielplan geht: Eine Grete Minde-Bearbeitung, nicht nach Fontane, sondern nach einem „ausgegrabenen“ Peter-Huchel- Hörspiel aus den vierziger Jahren. Die Stadt Tangermünde, in der die Brandstifterinnensage zu Haus ist, soll dann, voraussichtlich im August dieses Jahres, „auch in Flammen gesetzt werden. Wie wir das machen, wissen wir noch nicht genau.“

Geglücktes Remake

Zu Beginn der 'Intendanz August‘ hat sich, wie manchmal bei Anfängen, ein kleines Theaterwunder ereignet: Wolfgang Kolneder, Regisseur der Linie 1-Uraufführung am Berliner Grips-Theater, hat seinem Riesenerfolg ein weitgehend identisches Stendaler Remake angehängt. Zuerst möchte man glauben, da habe ein „Westregisseur“ auf die bequeme Art eine (wenn auch kümmerliche) Gage mitgenommen. Nach wenigen Tagen ist aus den Erzählungen vieler Schauspieler klar geworden, daß diese Produktion gerade wegen ihres Remake-Charakters ein Segen für das Stendaler Ensemble war.

Denn Kolneder wußte von Beginn an, was er wollte, konnte sich so ganz darauf konzentrieren, im Detail mit den Schauspielern zu arbeiten — und die stellten erfreut fest, daß viele neue West-Leute, einige neue Ost- Kollegen und ein paar altgediente Stendaler Schauspieler unter dem sicheren Dach einer gekonnten Inszenierung ganz fabelhaft miteinander auskommen können. So schwärmen junge Schauspieler, die aus Paris oder West-Berlin in die Provinz verschlagen wurden, wieviel sie von der altgedienten Stendalerin Marianne Weigel lernen konnten.

Die Linie 1-Aufführung kann sich tatsächlich zeitweise mit dem Berliner Original messen: Die Penner- Szenen zeigen Spiellust und feines 'Handwerk‘ auch bei den jungen Schauspielern, die ihre Verträge nach dem ersten Jahr in Stendal nicht verlängert haben; die verklemmten U-Bahn-Dialoge werden mindestens ebenso lustvoll kabarettistisch ausgespielt, gesungen und gewippt wie in Berlin. Berlin ist eben nicht weit, und viele Themen von Linie 1 würden wohl auch in dörflicher Umgebung funktionieren — sofern das Dorf in einem der reicheren Industrieländer läge.

Was heißt hier Liebe ist in Stendal ein anderer Renner aus dem Genre intelligente Unterhaltung. Dramaturg Düffel erzählt, wie er und seine Kollegen zwei Monate lang dem Intendanten ausreden mußten, Thomas Bernhards wüste Suada Der Theatermacher für Stendal zu produzieren: „Die Leute, die noch zu uns kommen, sind keine banausischen Spießer, sondern Stendaler, die ihr Theater lieben und sich mit ihm identifizieren. Deswegen fanden wir dieses Stück nicht richtig, in dem unablässig aufs 'Provinztheater‘ geschimpft wird.“ Und in zehn Jahren vielleicht Bernhards Theatermacher in Stendal? — „In zehn Jahren braucht man das Stück hier vieleicht schon nicht mehr“, sagt Düffel unerschütterlich optimistisch.

Wer ist Mariwaucks?

Intendant August inszeniert nur Musiktheater. In Schauspielproben läßt er sich nicht sehen. Da, glaubt er, hat sein langjähriger Oberspielleiter Goswin Moniac den Überblick. Aber in Schauspiel-Vorstellungen geht er mit großem Vergnügen.

„Sicher nicht bis zum Ende“ will er in der letzten Vorstellung von Marivaux' Im Spiel von Liebe und Zufall sitzen. Dann bleibt er doch, lächelt dann und wann milde, wie er es auch sonst gern tut, scheint aber zusätzlich ein kindliches Leuchten im Blick zu haben. Ganze neun Vorstellungen hat Jacques Kraemers Inszenierung zwischen Anfang Februar und Ende März erlebt — und das, obwohl auf diese glasklare, komödiantisch beseelte, intelligente und schön ausgestattete Produktion manches Großstadttheater stolz wäre. Noch während des kräftigen Schlußbeifalls der jämmerlichen 22 Zuschauer frage ich den Intendanten, der zufällig mit mir in einer Reihe sitzt, ob es ihn nicht traurig mache, ein solches Juwel nicht länger im Spielplan haben zu können. „Sie wissen doch, daß das kein künstlerisches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist“, sagt er müde.

Die Stendaler wüßten eben nicht, vermutet später Anke Schwiekowski, eine der Protagonistinnen, wer „Mariwaucks“ überhaupt ist. Außerdem vermutet jemand anders nach der Vorstellung, sei vielleicht doch für andere Stücke etwas mehr PR-Aufwand betrieben worden. Zumindest die bisher letzte Stendaler Produktion des Oberspielleiters Moniac hat Vorauswerbung, mangels künstlerischer Substanz, auch dringend nötig. Seine Romeo und Julia- Inszenierung schmückt sich zwar mit einem Trupp Kampfsportheroen des lokalen Vereins FSVLok Stendal. Zu Beginn wird auch wirklich beeindruckend gefochten, gerauft und geschubst — danach aber ist, für endlose Stunden, tote Hose. Ein paar Gestalten aus dem noch wenig eingespielten Ensemble haben ihre spannenden Momente — auffallend aber sind die unverzeihlichen Fehlleistungen der Regie. Die nicht ganz unwichtige Rolle der Amme ist mit einer ausgesprochen lästig tönenden und armerudernden Ex-Tänzerin besetzt, deren einzige erkennbare Qualifikation darin besteht, daß sie mit dem Oberspielleiter verheiratet ist. Den kupplerischen Mönch schmiert schaurig ein hauptberuflicher Opernmensch — obwohl ein auch vom Typ her ideal passender Komiker wie Siegfried Hilbig zur Verfügung stünde. Der wiederum spielt einen der verfeindeten Väter im Bademantel — man fragt sich vor lauter Ärger schon nicht mehr, warum. Auch junge Schauspieler, die man in Linie 1 glänzen sah, agieren unter der Regie des Oberspielleiters blaß, sinnlos dröhnend, beliebig: Unter anderem einmal mehr ein Beispiel für die schwer begreifliche Feigheit von Schauspielern, die einem verhältnismäßig einflußreichen Stümper in die Hände gefallen sind und sich trotzdem nicht wehren.

Goswin Moniac hat, wenn man dem Kantinengeflüster des Ensembles glauben darf, die ensembledienliche Arbeit des Linie 1-Mannes Kolneder weitgehend wieder zunichte gemacht. Die Ost-West-Trennlinie spielt dabei eine untergeordnete Rolle. „Man kann so leiten, planen und inszenieren, daß ein Ensemble zusammenwächst — aber auch nach dem Prinzip 'Teile und herrsche‘“, sagt eine Schauspielerin. Moniac kann eben schalten und walten; sein alter Freund August redet ihm in die Schauspielabteilung nicht rein. Der Boss macht zweimal jährlich eine Musiktheaterinszenierung, der Schauspieldirektor genießt das „blinde Vertrauen“ seines Vorgesetzten.

Wenn in Stendal Musiktheater gemacht wird, muß es nicht immer Mozart sein oder Puccini oder sonst ein halbwegs sicherer Renner. Benjamin Brittens Albert Herring-Oper hat der Intendant zuletzt erarbeitet, etwas gemäßigt Modernes also, aber im Libretto so überschaubar und populär, „daß man von daher die Leute wahrscheinlich leichter an die Musik heranführen kann“, vermutet einer der Hausdramaturgen. Das Spektrum des Musiktheaters reicht von My Fair Lady bis zur Riemann-Oper: Der amerikanische Komponist Tom Johnson hat das berühmte und vielbelästerte Riemann-Musiklexikon vertont, wörtlich. Ein Jux, der überregionale Beachtung fand und erstaunlicherweise auch von den Stendalern angenommen wird.

Irgendwo zwischen all dem und offenbar auch ziemlich zwischen den Stühlen: eine hochambitionierte kleine Tanztheater-Truppe. Deren Leiter fragt mich irgendwann, berechtigterweise beleidigt, warum ich nicht mit ihm rede. Ich erkläre ihm meine Abscheu vor jeder Art Tanztheater, er widerspricht mir, natürlich zu Recht. Trotzdem reicht meine Zuneigung zu dieser Kunstform nicht weit genug, um auch nur eine Zeile darüber zu verlieren. Gesagt werden aber soll und muß wenigstens: Stendal ist ein vollwertiges Dreisparten-Theater. Musiktheater, Schauspiel, Tanz.

Die Platzausnutzung sämtlicher Sparten des Stendaler Theaters liegt zur Zeit angeblich bei fünfzig Prozent, nach den einzelnen Sparten spezifizierte Zahlen scheint es nicht zu geben. Viel wird also nicht eingespielt; und wenn Kasse gemacht werden soll, muß die Leitung des Hauses schon West-Gastspiele organisieren — mit Linie 1 in Hannover zum Beispiel. Im festen Standort des Hauses sagt man einstweilen nach jedem Mißerfolg, mit Strindberg gesprochen: „Durchstreichen und Weitergehen“.

Herrn Augusts Devise heißt „Klotzen, nicht kleckern“ — damit das Theater bemerkt wird. Wahrscheinlich geht es wirklich nicht anders. Und dennoch droht das Ensemble dabei irgendwann zu zerfallen, wenn eine derartige Schauspielerlieblingsvorstellung wie Im Spiel von Liebe und Zufall nur lumpige neun Mal gespielt wird. Es scheint so zu sein, daß genau die Art von Theater, die die 1992 abwandernden Ensemblemitglieder am Haus halten würde, in dieser Stadt am wenigsten Publikumserfolg verspricht. Mindestens zwei Leute gehen zum Ende der Spielzeit, das sind zehn Prozent des festen Ensembles in der Sparte Schauspiel. Wohin sie gehen, wußten sie zur Zeit unseres Besuchs noch nicht: Der atemlose Produktionsrhythmus läßt keine Zeit zum Vorsprechen. Zwischen dem 25.Januar und dem 22.Februar hat das Schauspielensemble vier Premieren absolviert (und natürlich Repertoire-Vorstellungen vor oft fast leerem Haus eisern weitergespielt) — für eine derart winzige Truppe eine immense Belastung. Man fragt sich, ob diese kleinen Ost-Theater nicht zu der Zeit, wenn sie durch Vielspielerei ihr Überleben gesichert haben werden, künstlerisch ausgeblutet sein werden.

Für Stendal, außer Magdeburg das einzige Theater im Norden Sachsen-Anhalts, kommen Sonderbelastungen dazu: Der Status als Landestheater verpflichtet das Haus zu Abstechern in der ganzen Altmark. Und wenn eine größere Produktion zum Beispiel in Salzwedel (nahe Niedersachsen) gespielt wird, sind in Stendal womöglich zu wenig Schauspieler übrig, um eine Vorstellung spielen zu können.

Ein leibhaftiger Kulturdezernent

Der Kulturdezernent der Stadt Stendal sitzt in ausnahmslos jeder Premiere. Scherzhaft wird im Theater kolportiert, gelegentlich kämen auswärtige Gäste ins Haus, um einmal einen leibhaftigen Kulturdezernenten im Theater zu sehen. Wir sehen ihn, da wir zufällig keine Premiere erleben, in einer Talkshow zum Thema Theaterumbau. Der Mann sieht aus wie ein altmärkischer Schinken, ist aber sehr beflissen und sachkundig, liebt das Theater. Seinen ebenfalls anwesenden Bürgermeister steckt er locker in die Tasche, rhetorisch und intelligenzmäßig. Der Intendant aus Brandenburg, gleichfalls von Umbauplänen beflügelt, ist zu Gast im kleinen Stendaler „Studiotheater“; freundlich und ohne Konkurrenzgestank oder Eitelkeiten vergleichen die Potentaten, Herr Propeth und Herr August, ihre Zukunftsbauten.

August, der bei weitem raffiniertere von beiden, hat natürlich den Vogel abgeschossen: Sein Theater wird von Professor Werner Ruhnau umgebaut, der zuletzt mit dem Essener Theaterneubau die Fachwelt begeisterte. Zügig erklärt der schon leicht schusselige, aber immer noch beeindruckend souveräne alte Herr kühne Bühnenhubpodien, den angenehm weitläufigen Foyerbereich, im Osten bisher unbekannte gebrauchsfähige Toiletten und behindertengerechte Zufahrtsrampen.

Der Brandenburger Intendant, dessen Neubau von einer Zufallsauswahl irgendwelcher Lokalbaumeister gebastelt wird, sitzt staunend dabei. Der junge Herr von Düffel moderiert — von Lampenfieber geschüttelt, aber nicht ungekonnt. Alle sind gemessen optimistisch, zwischendurch gibt es „Kostproben“ aus dem Repertoire. Als ich im Diskussionsteil der Veranstaltung darauf hinweise, daß einem derart kühnen und schönen Projekt wie dem Stendaler Umbau die Kosten weglaufen oder auch Bauskandale in die Quere kommen könnten, antwortete der Kulturdezernent ungerührt und heiter, mit so etwas müsse man wohl inzwischen überall rechnen. Und wenn er irgendwann zurücktreten müsse, werde er eben zurücktreten.

Professor Ruhnau schwärmt nach der Veranstaltung von Hellerau bei Dresden, wo erstmalig im deutschsprachigen Theater der Guckkasten abgeschafft und die Raumbühne ausprobiert worden sei. Wir merken Hellerau einstweilen als spätere Reisestation vor und gehen — wie immer zwischen seit kurzem bekannten Gesichtern und mit gemischten Gefühlen — in den Kaisersaal. „Kotte Röhn“ trinken und neue Gerüchte hören über das Theater mit dem längsten aller Namen, das „Theater der Altmark Stendal, Landestheater Sachsen-Anhalt Nord“.

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