Das Prinzip »Hoffnung« bleibt auf der Tagesordnung

■ Bilanz eines Schuljahres (Teil 3)/ Noch ist die Einsatzbereitschaft Ostberliner LehrerInnen trotz fehlender Investitionen groß/ Gleiche Parole der SchülerInnen in Ost und West: Durchkommen/ Ostberliner SchülerInnen fühlen sich noch immer als »Ossis« gebrandmarkt/ Von Detlef Berentzen

An den Ostberliner Schulen geht das erste Schuljahr nach Westreglement zu Ende. Nachdem der Autor im ersten Teil der Serie (vergangenen Freitag) beschrieben hat, wie unterschiedlich die Bilanz dieser Übernahme ausfällt, ging es im gestrigen zweiten Teil um die Krise, in der die Ost-Lehrer stecken, und darum, wie sich Ostberliner Schüler, Lehrer und Eltern mit dem Westsystem arrangieren.

Der Protest der Lehrer gegen die GEW wird sich an der Ost-Basis noch verstärken, wenn weiterhin solche Gefühle der Verlassenheit und Getrenntheit dominieren. Gepaart mit der Unzufriedenheit gegenüber der Senatspolitik, wie sie hier geäußert wurde, eine durchaus brisante Mischung, die für noch mehr Unruhe sorgen könnte. Denn von Ruhe an der Lehrerfront kann auch in anderer Hinsicht keine Rede sein: Die bereits erwähnten andauernden Überprüfungen der individuellen Lehrervergangenheit schaffen, so notwendig sie sind, zusätzliche Unsicherheit: für den einzelnen Lehrer und in den Beziehungen untereinander.

Qualifizierte Bildung und Erziehung contra Gewalt

Die Situation an der 3. Gesamtschule des Bezirkes Prenzlauer Berg hat also zwei widersprüchliche, wohl auch beispielhafte Aspekte: Zum einen ist die Einsatzbereitschaft der Lehrer noch groß. Zum anderen wird sie mittelfristig durch den oft fehlenden Rückhalt im Westen unterminiert. Was also, wenn die versprochenen Investitionen in Ausstattung und Gehälter zu lange ausbleiben? Wenn der Bildungs- und Aufbauetat nicht aufgestockt werden? Bevor dieses Szenario eintritt, möchte Schulleiter Manfred Moritz den Verantwortlichen noch etwas ins Stammbuch schreiben:

»Das, was man für die Bildung zur Verfügung stellt, das stellt man für die Zukunft der Stadt zur Verfügung. Qualifizierte Bildung und Erziehung der jungen Generation können verhindern, daß später einmal Sonderprogramme zur Bekämpfung von Kriminalität und Gewalt nötig werden, die den Steuerzahler sehr viel kosten. Das sollten sich viele Politiker einmal merken.«

Die kundigen West-, aber auch die inzwischen gut informierten Ost- LeserInnen werden es wissen: Das Debakel um die Bildungsfinanzen ist nicht neu. Es bräuchte schon einen Paradigmenwechsel in den Köpfen der Herrschaften, bevor die Bildungsprozesse des Landes und vor allen Dingen ihre Reform, besser: »Revolutionierung«, als relevanter Gegenstand der Tagesordnung gelten. Seit den Reformversuchen der siebziger Jahre ist in dieser Hinsicht nichts Wesentliches passiert. Kritische Experten bestätigen das immer wieder: »In den siebziger Jahren erhielt die Schule eine einmalige historische Chance, den Anspruch auf modernen Unterricht für alle Schüler zu realisieren. Die nationalen Bildungspolitiken und die Schule haben diese Chance verpaßt. Das einzige, was sich modernisiert hat, ist die Verwissenschaftlichung des Leistungsmessungssystems.«

Manuela Dubois-Reymond, agent provocateur in Sachen Schulpolitik aus den Niederlanden, bringt die Stagnation der Bildungsdebatte wirklich auf den Punkt. Ebenso wie der Frankfurter Bildungssoziologe Ludwig von Friedeburg, wenn er moniert, daß sich der Schulbereich seit Jahrzehnten als »erstaunlich resistent« gegen jedwede Veränderung erwiesen hat.

Das sollte den Lehrern der 3. Gesamtschule jedoch nicht den noch vorhandenen Optimismus rauben. Das »Prinzip Hoffnung« bleibt auf der Tagesordnung: Vielleicht bewegt sich ja doch etwas, so wie in ihrer Schule, deren erstem Jahr sie gar keine schlechte Bewertung geben. Während Ursula Petri und Schulleiter Manfred Moritz ein »gut« aufs »Zeugnis« schreiben und betonen, daß das erste Schulhalbjahr schwieriger als das zweite war, möchte Elke Kaminsky doch noch weitergehend differenzieren: »Ich würde schriftliche Beurteilungen auf so ein Zeugnis schreiben. Dem Kollegium: ‘Viel Anstrengungsbereitschaft, viel Fleiß, viel Engagement und Kollegialität‚. Für unsere Schüler: ‘Die Masse hat sich gefunden‚. Und wollte man das Gleiche für den Senat tun, dann müßte man schreiben, er solle noch etwas genauer über die Zukunft nachdenken.«

Engagement und Optimismus sind gefragt

Zum Nachdenken über die Zukunft der Schulen, gehört indes auch die Akzeptanz von Erkenntnissen, wie sie die bereits zitierte Manuela Dubois-Reymond, oft genug tauben Ohren, »predigt«: »Die Jugend ist der Schule aus dem Zügel gelaufen. Kinder und Jugendliche lernen in der Schule nicht für sich, nicht für die Lehrer und nicht fürs Leben. Lehrer und Schüler produzieren Leistungen, deren Pseudocharakter ein positivistisches Zensurensystem verschleiert. Was alle Schüler, ohne Ansehen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Intelligenz in der Schule lernen, ist, das ihnen auferlegte Zensurensystem soviel wie möglich zu ihren Gunsten zu manipulieren.«

Lernen nur fürs Zensurensystem?

Die Provokationen von Manuela Dubois sind wirklich so notwendig wie einmalig: Gemünzt auf das westliche Schulsystem, könnten sie auch den Schülern der ehemaligen DDR bekannt vorkommen. Lernten doch auch sie nicht fürs Leben und beileibe nicht für sich. »Durchkommen muß man«, hieß die Parole auch im Osten. Man könnte also meinen, allzuviel habe sich für die Schüler Ost-Berlins mit dem ersten Gesamtberliner Schuljahr gar nicht geändert... Doch sollte man sie selbst fragen. Zunächst nach der Umstellung zu Beginn des Schuljahres: »Als wir erfahren haben, daß unsere alte Klasse auf den ganzen Bezirk aufgeteilt werden sollte, haben wir alle geheult... In der neuen Schule war alles so durcheinander, alles war ungewohnt. Man kannte gar keinen, weder Schüler noch Lehrer... Die Lehrer sind plötzlich so streng. Die meinen, wenn wir schon bei ihnen lernen dürfen, dann müssen wir auch still und gerade sitzen... Der Lehrplan ist viel schwerer... Was wir in der sechsten Klasse an DDR-Stoff hatten, haben wir jetzt alles noch einmal in der siebten... Wir hatten so gut wie keine Schulbücher.«

Die Mauer in den Köpfen der SchülerInnen

Nun ist die allerschlimmste »Pionierzeit«, der Schuljahresbeginn, vorbei, das Schuljahr zu Ende. Einiges hat sich verändert. Das Verhältnis zu den Lehrern, der Kontakt untereinander, aber eines nicht: Die Schüler fühlen sich noch immer als »Ossis« gebrandmarkt. »Auf keinen Fall« würden sie im Westen zur Schule gehen wollen, betonen sie. Da bekäme man doch nur zu hören, die »Ossis« seien alle »scheißblöd«, dabei seien es doch die »Westler«, die beispielsweise erst nach der achten Klasse für das Fach »Physik« reif sind, während sie als »Ostler« das bislang schon im sechsten Schuljahr packen konnten. Nun müssen sie sich aufs Westniveau herablassen: »Irgendwie sind die drüben zu langsam«, so ein Kommentar... Nicht ohne hinzuzufügen, daß »die drüben« auch in besseren Schulgebäuden sitzen. Hier, im Osten, seien die Schulen doch »verkeimt«, »dreckig«, schlecht ausgestattet, »wie im Gefängnis« oft: »Da kann man doch nicht lernen...« Man müßte den Senat auffordern, daß er mal was macht. Die denken immer, sie hätten genug Geld in den Osten gesteckt. Soll der Senat doch mal hier in die Schule gehen, das würde denen bestimmt auch keinen Spaß machen.«

Sozialistische Persönlichkeit ade

Bei aller Kritik — die Schüler haben sich eingerichtet. Damals wie heute. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Schon zu DDR-Zeiten seien die Inhalte der Schule an den Schülern »abgeperlt, wie Regenwasser an einem Cape«, räsonierte vor einiger Zeit Michael Tiedke vom Ostberliner »Aktionsbündnis Bildungs- und Erziehungsreform«. Sie hätten einfach die Rolle gespielt, die man von ihnen erwartete. Und so waren die Schulkinder das, als was man sie definierte: »Tagtäglich werden im Sozialismus allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeiten erzogen und in den Bildungseinrichtungen, in der Arbeit, in der Freizeit, in den Kollektiven, denen jeder einzelne angehört, herangebildet.«

Auch nach dem seit vergangenem Jahr für Ost-Berlin geltenden Westberliner Schulgesetz sind »Persönlichkeiten« heranzubilden, solche nämlich, »die sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewußt sind...« Doch ist sich die Allgemeinheit der Verantwortung ihnen gegenüber bewußt, wenn sie die Schüler in gefängnisähnlichen Gemäuern wie in Prenzlauer Berg lernen läßt? Wenn sie die Jugendlichen zu »Ossis« macht, zu Schülern zweiter Klasse mit Lehrern zweiter Klasse? Ohne ausreichende finanzielle Mittel und ohne Zukunft?

Gymnasien im Vergleich zu Gesamtschulen

Doch genug von Prenzlauer Berg, genug der ruinösen Schulbauten, genug der Gesamtschulen. Schließlich gilt es auch noch Schüler anderer Schultypen nach ihren Erfahrungen des ersten Schuljahres unter Westbedingungen zu befragen. In Hellersdorf kann man das am besten auf der grünen Wiese, im Garten der »Villa Pelikan« tun. Alte Bäume verstellen dort den Blick auf die Wohnklos des Bezirks, und eine frische Brise weht Uta, Ulrike und Anita ins Gesicht. Gerade haben die drei im Innern der Jugendfreizeiteinrichtung die Arbeit an ihrer Schülerzeitung 'Kids und Co.‘ beendet und nehmen sich jetzt Zeit, die zurückliegenden Monate an ihren Gymnasien Revue passieren zu lassen. Anita, Schülerin der 8. Klasse am 3. Gymnasium Hellersdorf, fällt zur Umstellung zunächst nur Positives ein: »Ich habe mich sehr schnell und sehr gut in meine Klasse eingelebt. Sehr gute Lehrer haben wir außerdem, und unsere Klasse ist die beste unter den achten Klassen. Für mich ist diese Schule besser als alle vorherigen.«

Klar hätten die Lehrer ihre Schwierigkeiten gehabt, mit den Büchern habe es auch einige Probleme gegeben, und Räume fehlten außerdem. Aber die Lage habe sich inzwischen beruhigt, ein Neubau sei in Aussicht gestellt worden, und am Gymnasium sei es allemal besser als an den Real- oder Gesamtschulen des Bezirks. Ein wenig könne man schon spüren, daß ein Gymnasium etwas Besonderes ist, meinen denn auch Uta und Ulrike (vom 2. Gymnasium Hellersdorf): »Die Ansprüche sind schon hoch, aber man kann es überleben. Das Klima an einem Gymnasium ist einfach besser als an einer Real- oder Gesamtschule... Bei uns ist es schon anders als an anderen Schulen. Man wird mehr gefordert. Und die Lehrer sagen ja auch immer: ‘Ihr seid am Gymnasium, ihr müßt mehr können als die anderen.‚ Was mir allerdings nicht gefällt, das sind die ewigen Wiederholungen. Wir hatten den Stoff schließlich schon in den Klassen vorher.«

Der Umgang mit der »neuen« Note 6

Die Überschneidungen der alten Ost-Lehrpläne mit denen aus dem Westen haben in diesem Schuljahr vielerorts Langeweile produziert. Spannend hingegen wurde es bei der Umstellung des Zensurenspektrums von 1-5 auf 1-6. Das schaffte Unruhe unter den Schülern, wie die drei Mädchen bestätigen. Vor allem dürfte das bei den Abiturienten nicht nur dieser Schulen der Fall gewesen sein. Zwar hat die Kultusministerkonferenz den Abschluß der 12. Klasse in diesem Jahr letztmalig als »hochschulreif« zugelassen, zwar hat der Senat die Lehrer zu umsichtiger Neu-Zensierung ermahnt, doch hier und da wird inzwischen strenger zensiert. Der Notendurchschnitt der betroffenen Klassen sinkt. Was sich für die Studienplatzbewerbung nachteilig auswirken muß.

Doch darum macht sich Ulrike erst einmal keine Sorgen. Sie hat andere: »Ich weiß nicht, was ich werden soll, ich habe gar keine Vorstellung. Das macht mir richtig Probleme.« Freundin Anita weiß zwar auch noch nicht so recht. Aber immerhin hat sie einen »Traumjob«: Moderatorin bei ihrem »absoluten« Lieblingssender, bei DT 64.

Unreflektierte Anpassungsprozesse

Noch fünf Schuljahre bis zum Abitur. Ob DT 64 Anita dann noch als Moderatorin braucht? Es ist so eine Sache mit den Traumjobs. Mit den Traumgebilden überhaupt. Traumschulen sind es jedenfalls nicht, die die Mädchen in Hellersdorf besuchen. Doch sind sie gnädig und vergeben sogar hervorragende Zensuren für das jetzt zu Ende gehende Schuljahr: »zwei«, »befriedigend« und »zwei bis drei«.

Die Schüler ordnen sich — was bleibt ihnen übrig — zunehmend in die neue Ordnung ein, die Lehrer äußern zunehmende Kritik, die noch desorientierten Eltern orientieren sich zunehmend, und der Senat registriert zunehmend die Anpassung an westliche Vorgaben — so ließe sich das zurückliegende Ostberliner Schuljahr 1991/92 zusammenfassen. Ist in einigen Jahren — sicherlich mit einigen Turbulenzen — der Anpassungsprozeß vollzogen, dann liegt das gewünschte Resultat vor:

Die Schulen Ost-Berlins haben endlich die gleichen Probleme wie die in West-Berlin, wie die im ganzen vereinigten Deutschland — Folgen von unreflektierten Anpassungsprozessen. Ludwig von Friedeburg war es, der diese Konsequenz auf den Punkt brachte: »Die Bildungsreform bleibt auf der Tagesordnung!«

Morgen endet die Serie »Bilanz eines Schuljahres« mit einem Beitrag von Arne Siebert über den Lehreraustausch zwischen Ost- und West- Berlin, der nicht in Schwung kommt.