: Kluges Fenster
■ „News & Stories“, Mo., 23.05 Uhr, Sat.1
Wir haben diesen bedauerlichen Vorfall noch nicht vergessen. Bei der Obduktion stellte sich heraus, daß der Schädel des Sportreporters Karl-Heinz Rummenigge völlig ohne Gehirn, dafür aber mit alten 'Bild‘-Zeitungen gefüllt war. Wir sind schmerzlich bewegt, jedoch in keiner Weise verwundert. Die aus seinem Munde stammende akustische Begleiterscheinung des Länderspiels der GUS gegen Deutschland — in Fachkreisen als „Kommentar“ bezeichnet — ist Zeugnis eines inneren Kampfes um Verbalisierung. Es ging um die dem breiten Publikum rätselhafte Identität der GUS. Denn „GUS“, das klingt so ähnlich wie „der Ruß“. Zweimal entschuldigte Rummenigge sich für seine Fehlleistung. Beim drittenmal war die GUS schlicht in „die Russen“ umgetauft.
Noch weniger bekannt als der derzeitige Status der einstigen Sowjetunion ist die Tatsache, daß RTLplus und Sat.1 ihre Sendetätigkeit nur unter der Bedingung aufnehmen durften, daß sie eine bestimmte Sendezeit für unabhängig produzierte „Kulturfenster“ bereitstellten. Einen Teil dieses Fensterprogramms produziert Alexander Kluge. News und Stories brachte diesmal ein 45-Minuten Gespräch mit Herbert Riehl-Heyse, der Jochen Vogel auf einer Informationsreise durch die GUS (um so auf Rummenigge zurückzukommen) begleitet hat. Riehl-Heyse schreibt für die 'SZ‘. An der Seite Vogels ist er mit zahlreichen Staatsoberhäuptern und Militärs der GUS zusammengetroffen.
Seine ungemein spannende Erzählung sind persönliche Einschätzung, die aus einem breit gefächerten Faktenwissen gespeist werden. Die politisch-wirtschaftliche Situation der GUS, die Riehl-Heyse referiert, gleicht in ihrer Verworrenheit der Balkankrise. Mit dem Unterschied, daß ein paar Völker mehr sich gegenseitig zum Teil mit atomaren Waffen bedrohen. Abrüstung ist unmöglich, da die gigantische Zahl der Offiziere nicht entsorgt werden kann. Die Atomwaffen verwahren sie als Faustpfand gegen Arbeitslosigkeit. Auf in letzter Sekunde handredigierten Zetteln verabschieden Politiker indes eine chaotische Gesetzesflut. Planwirtschaft wird durch organisierten Schwarzmarkt abgelöst.
Ohne produktionstechnischen Aufwand und mit nur wenig eingeblendetem Bildmaterial gelang Kluge eine atemberaubende Kultursendung, und zwar nur deswegen, weil der für sich sprechenden Kraft des rein Faktischen ein — in diesem Fall sprichwörtliches — „Fenster“ geöffnet wurde. Man möchte mehr wissen, aber schon kommen wieder die bunten Sat.1-Bälle; das Rummenigge-Programm geht weiter. Manfred Riepe
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