: „An die Front, mein Liebster, mußt du gehn“
Die bosnische Stadt Mostar an der Neretva hat ihre Brücken und Denkmäler verloren/ Nach vierzig Tagen Krieg ist sie zwar befreit, doch jetzt üben die Befreier, kroatische Freischärler, grausame Rache an den Serben ■ Aus Mostar Roland Hofwiler
Der Krieg ist aus, doch noch brennen die Häuser. Während Flüchtlinge in der Feldküche einen Teller Erbsensuppe erhalten erklingt Lili Marleen mit neuem kroatischem Text aus dem Lautsprecher. Eine Gruppe von Kindern spielt „Kroate gegen Serbe“, doch keiner will der Serbe sein. Im Stadtpark werden unterdessen die neuen Helden begraben. Bestialischer Leichengestank hängt in der Luft. Mostar, nach vierzig Tagen Krieg, ist befreit — und die Befreier üben Rache.
Mostar, zu deutsch: die „Brücke“, hat seine Brücken verloren. Die Einwohner der bosnischen Stadt an der Neretva, einst 120.000, wurden vertrieben. Vierzig Tage Krieg reichten aus, um die vielleicht schönste bosnische Stadt in ein riesiges Trümmerfeld zu verwandeln: Der historische Stadtkern aus dem Mittelalter ist ausgebrannt, das alte türkische Viertel dem Erdboden gleichgemacht. Nach der Donaustadt Vukovar ist Mostar die zweite europäische Stadt deren Geschichte ausgelöscht wurde, ohne daß Europa diesen Verlust wahrnahm. Über Mostar, die „Brücke“, verlief im Mittelalter eine Handelstraße von Wien über Venedig in den Orient. Nun wird sie nicht mehr die verschiedenen Kulturen miteinander verbinden. Zumindest nicht mehr die südslawischen Völker des ehemaligen Jugoslawien.
Serbische Freischärler haben in ihrem Wahn, Mostar für ein Großserbien einzunehmen, bestialisch gewütet. Hunderte, vielleicht auch Tausende Muslimanen und Kroaten wurden hier in den letzten Wochen niedergemetzelt, hunderttausend Menschen vertrieben. Nur ein Denkmal blieb heil: Die Steinbogenbrücke über die Neretva, Wahrzeichen zahlreicher Urlaubsprospekte und älteste aller Brücken. Sieben weitere Neretva-Übergänge dagegen wurden gesprengt wie alle anderen Wahrzeichen der ehemals multikulturellen Stadt. Moscheen, türkische Herbergen und Badestätten, katholische Kirchen und die Grundmauern einer alten Synagoge, die vor fünfhundert Jahren entstand — all das ist zerstört.
Doch auch die muslimisch-kroatischen Verbände, die Mostar zurückeroberten und nun als Befreier auftreten, verhalten sich kaum besser. Haus um Haus stecken sie in Brand, Eigentum einst serbischer Mitbürger. Ausnahmen werden nicht gemacht. Auch werden Serben pauschal gefangengenommen, so daß in den neuen Gefängnisanlagen bereits Tausende von Menschen eingepfercht sind, auch Frauen und Kinder — als Faustpfand. Ein Faustpfand, mit dem man die Aufhebung der Belagerung Sarajevos erzwingen und mit einem Entlastungsvorstoß die serbischen Einheiten an mehrere Kriegsschauplätze binden will. Die Kriegslogik auf beiden Seiten: Wir erschießen unsere Geiseln, wenn ihr unsere Leute nicht freigebt.
Die Stadt soll von Serben „gesäubert“ werden
Bereitwillig laden die neuen Eroberer Journalisten ein, Mostar einen Besuch abzustatten. Man will Europa zeigen, wie es schlief, als Serben kroatische und muslimische Zivilisten ermordeten. Doch niemand will kritische Fragen hören, zum Beispiel diese: Warum hindert niemand die kroatischen Freischärler, Rechtsextremisten und internationalen Söldnergrupen daran, Serben zu liquidieren? Auch verweigert man der Presse den Zutritt zu Massengefängnissen.
Ein kroatischer „Kantonsrat“, der für sich beansprucht, die künftige Regierung Mostars zu sein, erklärt: „Die Stadt muß für alle Zeiten von Serben gesäubert werden.“
Das Wort „Säuberung“ kommt dem Präsidenten des „Kantons Herzeg“ (Hauptstadt Mostar), Mate Boban, leicht über die Lippen. Der Statthalter des kroatischen Präsidenten Tudjman, Vorsitzender der „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ für Bosnien, sieht es ähnlich. Die Serben hätten Bosnien — wie auch Kroatien — militärisch angegriffen, und jetzt seien die Kroaten im Recht, wenn sie sich mit allen Mitteln verteidigen. Da den kroatischen Kampfverbänden — und nicht den muslimanischen Bürgerwehren — die Befreiung von Mostar zu verdanken sei, so Boban, müsse die Stadt an der Neretva „vorerst kroatisch regiert“ werden. Die Bevölkerungsverhältnisse vor dem Krieg interessieren ihn dabei wenig. Damals bekannten sich immerhin 35 Prozent der 120.000 BürgerInnen zu der muslimanischen Volksgruppe, 34 Prozent begriffen sich als Kroaten und 20 Prozent als Serben. In den letzten Tagen kehrten lediglich tausend ehemalige Einwohner nach Mostar zurück, alles Kroaten. Weitere zehntausend sollen folgen, wieder nur Kroaten.
Leichen werden in Parkanlagen verscharrt
Auch auf anderen Gebieten, weiß der „kroatische Kantonsrat“ seine Herrschaft abzusichern. So ist alleiniges Zahlungsmittel an der Neretva der kroatische Dinar. Die installierten Fernseh- und Radiotransmitter senden nur die Programme aus Zagreb, aber nicht die aus Sarajevo aus. Kroatische Fahnen wehen in der Stadt, bosnische sieht man nicht. Das sei alles nur vorübergehend, erklären die Verantwortlichen. Das mag zwar stimmen, denn eine Gewähr gibt es nicht, daß Mostar in den nächsten Wochen tatsächlich fest in den Händen der Kroaten bleibt. Fünfzehn Kilometer nördlich am Veles- Bergmassiv liegt die Front.
Dort toben Kämpfe, dort wird gestorben. Sanitätsfahrzeuge fahren in Mostar pausenlos ein und aus. Die Betten im provisorischen Krankenhaus sind überfüllt. Täglich sterben Schwerverletzte, und die Leichen werden weiterhin in den ehemaligen Parkanlagen der Altstadt verscharrt. Zweihundert neue Gräber wurden allein in den letzten Tagen ausgeschaufelt. Gräber ohne Kreuze und Blumen — nur Erdhügel, die ganz selten Namen tragen.
Mostar, das Trümmerfeld, wird auch weiterhin unbewohnbar bleiben. Es gibt keinen Strom, kaum Wasser, nur selten Lebensmittel. Keiner der etwa tausend „Heimkehrer“ kam freiwillig zurück, um beim Wiederaufbau mitzuhelfen, wie dies die „Befreier“ darstellen. Sie hatten nur keine andere Wahl. Die „Heimkehrer“ harrten entweder unentdeckt in alten Kellergewölben aus, oder kamen von einer der nahegelegenen Berghöhlen außerhalb der Stadt. Jedem von ihnen steht das Entsetzen noch im Gesicht geschrieben. In einem Feldlazarett harren alte Frauen und Kinder den ganzen Tag bei einem Stück Brot und Tee aus. Immer wieder bricht eine der Frauen in Tränen aus, immer wieder schreit ein Kind, zucken andere zusammen, als erschienen vor ihren Augen die Bilder des Schreckens von neuem. Sie alle hätten eine furchtbare Geschichte zu erzählen, und doch erfährt man sie nicht.
Die Soldaten der „Vereinigten kroatischen Verteidigungskräfte Bosniens“, so nennt sich die Befreiungsarmee offiziell, läßt keinen Kontakt zu. Die Eindrücke sollen bewußt oberflächlich bleiben und Massaker auf beiden Seiten verschwiegen werden.
Dennoch hat man es nicht vergessen: Schon Monate vor Ausbruch des Krieges terrorisierte in Mostar eine Handvoll kroatischer Neofaschisten um den Großkroaten Dobroslav Paraga die serbische Bevölkerungsminderheit. Zwischen den Stühlen saßen damals wie heute die Muslimanen. Nun sollen es die Paraga-Milizen sein, die mit Rückendeckung der „kroatischen Verteidigungsverbände Bosniens“ an vorderster Front die Serben vertreiben und liquidieren. Im serbischen Neubaugebiet Mostars setzen sie seit Tagen einen Wohnblock nach dem anderen in Brand.
In den Dörfern steht kein Stein auf dem anderen
Auch in den serbischen Dörfern um Mostar stünde kein Stein mehr auf dem anderen, erzählen Augenzeugen.
Man lobt die Jungs, die „ganze Arbeit“ leisten und gnadenlos mit jedem Serben abrechnen, der ihnen in die Hände fällt. Es scheint die Soldaten nicht zu stören, daß in diesem Krieg im Tal der Neretva bisher noch keiner etwas gewonnen, aber jeder alles verloren hat. Berührungsängste mit der Vergangenheit kennt man bei den Befreiern von Mostar jedoch nicht. Lili Marleen erklang im Zweiten Weltkrieg für die deutschen Soldaten über den „Rundfunk freies Bosnien“. Jetzt erklingt die Melodie für ein Großkroatien über die Sendeanlagen Mostars: „An die Front, mein Liebster, mußt du gehn, doch die Melodie soll dich stärken, damit du unsere kroatische Erde befreist.“
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