ESSAY
: Grenzfragen — Beispiel Europa

■ Zur Geschichte der Grenzen und den Aporien des Selbstbestimmungsrechts

Als einzelne wie als Mitglieder von Kollektiven neigen wir dazu, bei den jeweils anderen Laster anzuprangern, die wir selbst gerade erst überwunden haben. Heute erscheint es uns atavistisch, wenn Politiker versichern, ihre Nationen würden um jeden Quadratzentimeter des geheiligten Heimatbodens kämpfen, wenn zur Verteidigung territorialer Ansprüche die Chroniken des Mittelalters bemüht, feste Grenzen für einen Zeitpunkt behauptet werden, wo den Zeitgenossen der schlichte Begriff „Landesgrenze“ unbekannt war. Dank einer glücklichen historischen Konstellation — der „Einbindung“ in den Westen und einer langanhaltenden Wachstumsperiode — ist es uns leicht geworden, den Verlust ausgedehnter Territorien im Osten zu verschmerzen. Sollte es noch sehnsuchtsvolle Blicke Richtung Breslau oder Königsberg gegeben haben — sie sind spätestens seit 1990 gesenkt. Die Kosten der Einheit haben den Appetit nach territorialem „Mehr!“ verdorben. Reichtumsproduktion unter kapitalistischen Bedingungen bedarf keines ausgedehnten Territoriums. Wir leben ganz gut als „Volk ohne Raum“. Das ist die Lehre. Sie wurde allerdings erst nach zwei verlorenen Weltkriegen und Dutzenden von Millionen Toten angenommen.

Global gesehen ist die große Mehrzahl der heutigen Staatsgrenzen Produkt des Imperialismus. Sie sind „künstlich“. Aber auch die Grenzen in Europa sind alles andere als altehrwürdig und „organisch“. Zusammenhängende, ein einheitliches Territorium definierende Außengrenzen sind auch bei uns jüngeren bis jüngsten Datums. In Frankreich, wo sich die Entwicklung zum Nationalstaat früher vollzog, war „frontière“ mehrere Jahrhunderte ein rein militärischer Begriff. Erst allmählich, mit der Liquidierung der Innengrenzen des Königreichs, wurde die äußere Grenze — auch unter fiskalischen Gesichtspunkten — interessant. Den Schlußstrich zog schließlich die französische Revolution, indem sie die einheitliche, „lineare“ Grenze der Republik festlegte.

Wie bedeutsam Grenzen, der durch sie bestimmte innere Markt und das mit ihnen verbundene Schutzzollsystem für die Entwicklung des Kapitalismus im westlichen Europa waren, ist umstritten. Fest steht auf alle Fälle, daß die Herausbildung des italienischen und des deutschen Nationalstaats das Ergebnis einer ökonomischen Dynamik war und von dort ihre Legitimation bezog. Ganz anders die Situation im Osten Europas. Die Nationalstaaten, die dort im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstanden, profitierten nicht mehr von der Herstellung vereinheitlichender ökonomischer und juristischer Rahmenbedingungen. Sie verdankten ihre Geburt dem Zerfall der großen Wirtschaftsräume, die durch die supranationalen Imperien gebildet worden waren. Ihr konstitutionelles Gebrechen bestand darin, daß sie zwar auf dem Selbstbestimmungsrecht basierten, aber einem selektiv gehandhabten. Wehe den Besiegten! Jede der neuen, siegreichen Nationen beherbergte Minderheiten der anderen, geschlagenen, denen ohne Ausnahme die Minderheitenrechte verwehrt wurden. Im Ergebnis gab es in der ganzen Region kaum eine Grenze, die nicht umstritten gewesen wäre. Je tiefer die labilen Ökonomien in den Strudel der Weltwirtschaftskrise gezogen wurden, desto leichter etablierten sich die nationalistischen Demagogen und mit ihnen hybride Formen der Zentralisation und nationalen „Homogenisierung“. Die faschistischen Achsenmächte, denen die ost- und südosteuropäischen Staaten anheimfielen, korrigierten hier und dort, verschoben aber endgültige Regelungen auf die Zeit nach dem „Endsieg“.

Wie hätte nach der Befreiung vom Faschismus eine Grenzregelung aussehen können, die altes Unrecht beseitigte, ohne neues zu schaffen? Der naheliegende Lösungsweg wäre die Föderation gewesen. An Projekten hatte es nicht gemangelt, von der „Donauföderation“ der österreichischen Sozialisten bis zur „Balkanföderation“ der Dritten Internationale. Die Föderation wäre nicht künstlicher gewesen als die Nationalstaaten, die nach 1918 entstanden waren, hätte dafür aber zahlreiche Nationalitätenkonflikte und alle Grenzfragen entschärft. Dimitroff und Tito wollten 1948 einen Anfang machen. Aber die Sowjetunion zog es schon damals vor, die ihrer Gewalt unterworfenen Nationen voneinander abzuschotten, sie von Zeit zu Zeit gegeneinander zu hetzen, stets aber „den Deckel auf dem Kochtopf zu halten“. So wurden Nationalitäten- und Grenzkonflikte nur stillgelegt — bis der Koch sich verabschiedete.

Westliche wie östliche Politiker waren einem fatalen Irrtum erlegen, als sie 1975 in Helsinki glaubten, mit der Festschreibung des territorialen Status quo dem KSZE-Prozeß eine stabile Grundlage zu geben. Da sie für einen unabsehbaren Zeitraum von der Blockteilung Europas und der Dominanz der Supermächte ausgingen, reduzierte sich für sie die Grenzfrage im wesentlichen auf die Regelung der deutschen Verhältnisse. Für die westlichen Staatsleute war das eine bequeme Selbsttäuschung. Osteuropäische demokratische Oppositionelle, die es wagten, eine Friedensordnung (samt deren Problemen) jenseits der Blockteilung zu denken, wurden als Kalte Krieger und Scharfmacher denunziert. Pech für die Balten und andere, etwas zu weit östlich angesiedelte Völkerschaften.

Heute sind die Europäer mit einer vollendet absurden Situation konfrontiert. Während im Westen die materiellen Grundlagen für die Nationalstaats-Grenzen obsolet werden (um in Gestalt der erweiterten EG wiederaufzuerstehen), wird der Osten und Südosten Europas von bewaffneten Konflikten erschüttert, die sämtlich um National-, Minoritäten- und Grenzfragen kreisen. Bei dem Versuch, schlichtend einzugreifen, verwickeln sich die westlichen Staaten in einen eklatanten Widerspruch: weil sie die nationale Selbstbestimmung zum alleinigen Kriterium erheben, müßten sie eigentlich nicht nur den nach Unabhängigkeit strebenden Nationen, sondern auch den Minderheiten innerhalb des jeweiligen Staatsverbandes das Recht auf Lostrennung geben. Was den Kroaten recht, müßte demnach den Serben der (kroatischen) Kraijna billig sein. Wo innerhalb des Minderheitengebietes eine kompakte Ansiedlung des Mehrheitsvolks anzutreffen ist, wäre allerdings wieder das Recht auf Vereinigung mit der „Mutternation“ zu gewähren. Weil diese Konsequenz für sie unannehmbar ist, haben die westlichen Politiker die inneren Grenzen — etwa in Jugoslawien oder zwischen den einzelnen Sowjetrepubliken — als völkerrechtlich verbindliche proklamiert. Aber wie soll die Legitimität dieser Grenzen begründet werden? Hat ein Schenkungsakt Chrustschows die Krim zum ukrainischen Staatsgebiet gemacht?

Die gegenwärtige Position der westlichen Staaten ist nicht nur inkonsistent, sondern auch unglaubwürdig. Bis Sommer 1991 galt auf UNO-Ebene wie in Europa als unumstößlicher Grundsatz, daß Sezessionen und damit verbundene Grenzrevisionen nicht auf völkerrechtliche Anerkennung rechnen können, solange der „Mutterstaat“ noch existiert. In den europäischen Verfassungen gibt es kein Recht auf Lostrennung, der kollektive Minderheitenschutz einschließlich des Rechts auf Autonomie ist unterentwickelt. Minoritäten können ihre Forderungen vor keinem internationalen Gerichtshof geltend machen. Mit einem Wort: das bis zur letzten Konsequenz praktizierte Selbstbestimmungsrecht im Osten Europas wird von den demokratischen Staaten für die eigene Praxis nicht akzeptiert.

Internationale Konferenzen, militärische oder „humanitäre“ Aktionen zum Schutz der Zivilbevölkerung in den umstrittenen Regionen und so weiter mögen für den Augenblick die Konflikte entschärfen. Dauerhafte Lösungen können in einem ideologisch so aufgeladenen Spannungsfeld nicht erhofft werden. Die Kräfte der „zivilen Gesellschaft“ — das lehrt gerade jetzt wieder der „Fall“ Moldawien — werden fast vollständig von der nationalistischen Demagogie absorbiert. In dieser Situation wächst im westlichen Europa die Versuchung, sich angeekelt zurückzuziehen. Zu fordern wäre demgegenüber eine Politik, die grenzüberschreitende Projekte bis hin zu Wirtschaftsgemeinschaften im Osten Europas ökonomisch prämiert und damit die Bedeutung von Grenzziehungen relativiert. Zu fordern aber wäre vor allem ein international durchsetzbarer Minderheitenschutz. Der erste Vorschlag kostet Geld, der zweite setzt eine politische Reform in den meisten Demokratien Europas voraus. Beides ist derzeit nicht zu haben. Christian Semler