Hoffen auf die „Weisheit des Volkes“

Bei der Diskussion über Karabach wächst die nationalistische Opposition gegen Armeniens Präsidenten  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Szene war glanzvoll. Bei Kerzenlicht flanierten am Mittwoch abend auf der Terrasse des Ottomanischen Palastes in Istanbul die Häupter der Schwarzmeerstaaten. Hier trafen sich Politiker, die sonst nicht nur Hunderte von Kilometern voneinander trennen, sondern ganze Kriegsfronten. Da konnte Leonid Kravtschuk dabei belauscht werden, wie er Rumäniens Ion Iliescu beschwor, Moldovas Mircea Snjegor gut zuzureden. Auch der Dnjestr-Region müßten weitgehende Autonomierechte eingeräumt werden. Kravtschuk hatte es gerade mit der Halbinsel Krim so gehalten und dadurch deren Abbröckeln verhindert, vorläufig zumindest. Auch Snjegur, gar nicht widerborstig, hatte zu Hause laut gehofft, daß sich im Verlaufe des Istanbuler Treffens in seinem Lande das Eis von der Stelle rühren könnte — auch wenn er offiziell verkündete, sich mit Boris Jelzin im Krieg zu befinden.

Wie Hund und Katze benahmen sich hingegen Aserbaidschans Abulfaz Elcibey und Armeniens Lewon Ter Petrossjan. Sie strichen auf Armeslänge aneinander vorbei, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Er sei zwar bereit, am Rande des Kongresses über den Karabach-Konflikt zwischen ihren beiden Ländern zu verhandeln, verspreche sich aber kaum etwas davon, teilte Elcibey der Presse mit. Gerade erst waren in Rom Gespräche zwischen beiden Seiten in einer Sackgasse geendet.

„Armenien kann die Normen des Völkerrechts nicht ignorieren“

Ter Petrossjan bezeichnete sie jedoch während der osmanischen Dinner-Party als „nicht gescheitert“. Snjegur, so schien es, kam der Druck der Nachbar-Staatsoberhäupter ganz gelegen. Diese fordern von ihm einen Kompromiß, der eine von ihm nur noch formell regierte Region beinhaltet. So konnte er von seiner bei den eigenen Landsleuten populären Position der Härte ein wenig abweichen. Aber wie steht es in dieser Hinsicht mit Elcibey und Ter Petrossjan?

Am Vorabend des Istanbuler Treffens beendete Ter Petrossjan eine außerordentliche Abendsitzung des Parlamentes in Jerewan mit einem Schlußwort an die Opposition im eigenen Lande. Er rief dazu auf, bei der Lösung des Karabach-Problems von den Realitäten auszugehen und sich keine unmöglichen Ziele zu setzen: „Wir können nicht die Normen des Völkerrechtes ignorieren und sind verpflichtet, mit der Meinung der Weltgesellschaft zu rechnen. Ich hoffe, daß der gesunde Menschenverstand und die Weisheit unseres Volkes es verantwortungslosen Kräften nicht gestatten werden, uns auf einen aventuristischen Weg zu führen.“ Auch auf die Forderungen nach seinem Rücktritt, die in letzter Zeit laut wurden, erwiderte Ter Petrossjan bei dieser Gelegenheit. Nur ein im ganzen Volke durchgeführtes Referendum könne seine Abdankung erzwingen.

Die Integrität des Physikers Ter Petrossjan hat viele Armenier davon abgelenkt, daß einige seiner Vorstellungen im heute verbreiteten nationalen Bewußtsein geradezu an Verrat grenzen. Petrossjan hatte niemals der politischen UdSSR-Nomenklatura angehört und war für seine Überzeugungen auch ins Gefängnis gegangen. Obwohl er, wenn es hart auf hart käme, Umfragen zufolge noch immer 50 Prozent der Stimmen bekäme, setzt sich langsam Mißtrauen gegen ihn im Lande durch.

Es liegt nicht an dem Präsidenten selbst, wenn seine politische Linie lange Zeit von den Bürgern falsch eingeschätzt wurde. Gleich nach Antritt seines Amtes im Sommer 1989 entwarf Ter Petrossjan vor dem Parlament einen Plan zur Lösung der Karabach-Frage, der dem Ei des Kolumbus glich. Die Obersten Sowjets aller beteiligten Seiten, Armeniens, Aserbaidschans und auch der Oberste Sowjet Karabachs selbst sollten ein Moratorium über alle Resolutionen verhängen, die von ihnen seit dem Ausbruch der Krise 1988 verabschiedet wurden. Praktisch hätte dies bedeutet: Sowohl die Autonomie- Erklärung Berg-Karabachs als auch das Begehren des armenischen Parlamentes nach Anschluß der Enklave an das eigene Land werden rückgängig gemacht. Der Weg für eine völlig neue Definition des Status Berg-Karabachs, z.B. als UNO-Protektorat, wäre nach einem solchen Schritt offen. Ter Petrossjan, den man noch wenige Tage vorher auf Händen durch die Straßen getragen hatte, wurde auf dieser Sitzung niedergeschrien. Er erfuhr derart erbitterten Widerstand, daß er den Vorschlag nie wieder aufnahm. Jedenfalls nicht laut.

Hundertprozentige Patrioten wie der einstige Bürgerrechtler Paruir Ajrikian, der einige Jahre im US- Exil verbrachte, und die von ihm geleitete Bewegung „Nationale Selbstbestimmung“ werden in ihrem Bestreben, die Kompromißbereitschaft des Präsidenten zu denunzieren, nunmehr von der militärischen Entwicklung an den Grenzen des Landes bestärkt. Der Umstand, daß die Übergabe militärischer Ausrüstungen aus Ex-UdSSR-Beständen an Aserbaidschan schneller und in viel größerem Umfang erfolgt ist als an Armenien, haben die aus den letzten Wochen bekannte aserbaidschanische Offensive ermöglicht.

Sie zielt bereits nicht nur auf Berg- Karabach, sondern wendet sich direkt gegen armenisches Gebiet. Besonders hervorzuheben sind hier die Angriffe auf das Bezirkszentrum Megri. Dort verläuft die gemeinsame Grenze zwischen Armenien und dem Iran. Die Angriffe werden von aserbaidschanischer Seite offenbar in der Hoffnung forciert, hier einen Korridor zu der autonomen Provinz Nachitschewan zu schaffen. Diese gehört zwar zur eigenen Republik, war aber bisher nur über armenisches Terrain zu erreichen.

Nicht nur die Opposition blockiert den Weg zur Verhandlungslösung

Die Verhandlungsunlust, die Elcibey kürzlich in Rom und auf der Istanbuler Abendparty an den Tag legte, könnte sich schnell verflüchtigen, wenn derartige Tatsachen geschaffen wären.

Während sich täglich das militärische Gleichgewicht zuungunsten Ter Petrossjans verändert, blockiert nicht nur die eigene Opposition den Weg zu einer Verhandlungslösung. Auch die armenische Bevölkerung von Berg-Karabach selbst ist wenig hilfreich. Deren leidvolles Schicksal verleiht ihren Volksvertretern in den Augen der Jerewaner nahezu die Autorität von Heiligen. „Es gibt zwischen den Interessen der Karabacher und der armenischen Regierung zwar keine Widersprüche, aber doch differenzierende Nuancen“, verriet kürzlich ein wissenschaftlicher Berater des armenischen Kabine, ein hagerer alter Professor. Und nachdenklich fügte er hinzu: „Das heißt nicht, daß die einen recht haben und die anderen unrecht. Wenn ich in Jerewan sitze, kann ich für Dinge stimmen, für die zu stimmen unmöglich ist, sobald ich in Stepanakert bin“.