: Proteste gegen Bonner Tarifsparpläne
Gewerkschaften sagen einer Aushebelung der Tarifautonomie im Osten den Kampf an/ Bonner Kabinettsbeschluß hat eine lange Geschichte/ Schon heute unterschiedliche Regelungen im Osten ■ Von Annette Jensen
Berlin (taz) — Erich Honecker saß noch hoch und trocken in Wandlitz und das Ende der DDR war noch nicht in Sicht, als die FDP in Bonn die Einsetzung einer Deregulierungskommission durchsetzte. Sie sollte Vorschläge erarbeiten, wie die freie Wirtschaft noch freier werden könne. Von den 97 Vorschlägen, die die Experten ersannen, will das Bundeskabinett jetzt 30 in die Tat umsetzen. Am brisantesten ist dabei Punkt 86: „Der Tarifvertrag kann im Notfall durch Betriebsvereinbarung zeitweilig abbedungen werden.“ Ursprünglich für die angeblich so geknebelte Westwirtschaft konzipiert, will die Kohl-Regierung auf diese Weise die Ostwirtschaft zu neuen Ufern führen. Die Regelung soll auf fünf Jahre begrenzt bleiben.
„Das ist der größte Angriff auf die Tarifautonomie seit 45“, sagt der Leiter der Tarifabteilung beim IG- Metall-Vorstand, Klaus Lang. Einen nicht näher definierten „Notfall“ zu reklamieren werde wohl den meisten Arbeitgebern im Osten nicht schwerfallen. Wenn aber erst einmal ein Betriebsrat mit Hilfe des drohenden Pleitegeiers zur Unterschrift unter eine Betriebsvereinbarung veranlaßt worden sei, sei der „Notfall-Betrieb“ durch die niedrigen Löhne finanziell im Vorteil — andere „Notfälle“ in der Branche würden unweigerlich folgen, um konkurrenzfähig zu bleiben: das Lohnniveau sinkt insgesamt.
Juristisch befindet sich die Regierung mit ihren Vorstellungen auf ausgesprochen dünnem Eis. Denn der Grundgesetzartikel 9 legt fest, daß eine Behinderung oder Einschränkung der Vereinigungen zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ rechtswidrig ist. Außerdem hat der Staat nicht das Recht, in die Vertragsfreiheit der Tarifpartner einzugreifen.
Geändert werden müßten wahrscheinlich zwei Bundesgesetze: das Tarifvertragsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz. Da aber die neuen Regelungen — zunächst — nur in den neuen Bundesländern gelten sollten, würde unterschiedliches Recht für Ost und West geschaffen. Da es sich nicht mehr um Übergangsregelungen handelt wie beim Paragraf 218, ist auch hierbei fraglich, ob die Karlsruher Richter in den roten Roben die Regierungsvorschläge durchgehen ließen. Klaus Lang hat bereits angekündigt, daß die Gewerkschaften eine Klage prüfen.
Bereits heute ist der Osten Deutschlands tarifpolitisch wesentlich uneinheitlicher als der Westen. Große Firmen, wie zum Beispiel BMW und Opel in Eisenach, sind noch nicht den Arbeitgeberverbänden beigetreten; die Tarifverträge sind somit für sie nicht bindend. Theoretisch könnten sie untertarifliche Löhne bezahlen. Ihnen geht es aber vor allem darum, durch Betriebsvereinbarungen Leistungslohnsysteme und Eingruppierungen festzuschreiben, die sie auch beim späteren Eintritt in die Arbeitgeberverbände beibehalten wollen. Insgesamt ist der Organisationsgrad der Arbeitgeber in den neuen Bundesländern wesentlich niedriger als im Westen, weil die Position der Arbeitnehmer schwächer ist.
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