: Die Geisterstadt der wolligen Wunder
Jugendliche im Osten — Beobachtung einer öffentlichen Radiovorführung von DS-Kultur ■ Von Christian Deutschmann
Früher hatte Clausi den Spielmannszug, die Spartakiade und die Kumpels. Jetzt ist die junge Frau arbeitslos und sehnt sich nach einem Job, der sie ausfüllt. „Nach drüben“, wie es ihr Vater vorschlägt, will sie nicht gehen, obwohl es da vielleicht Arbeit gibt. Sie hat immer noch Kumpels hier, und deshalb will sie bleiben, „weil ich die alle gern habe.“ Clausi spricht es aus: „Ich würde am liebsten die Mauer wieder hinstellen.“
Clausi wohnt in Premnitz/Brandenburg, ebenso wie Ricardo, der sagt: „Wenn ich 'ne Arbeitsstelle kriegen würde, ich würde knüppeln.“ Sandro klagt über fehlendes Familienleben, nachdem sein Vater ein Geschäft eröffnet hat. Jacqueline, will lieber „unter 'ner Brücke pennen“ würde als nochmal in der Kunstfaserfabrik arbeiten und hat jetzt die Skinheads für sich entdeckt.
Das O-Ton-Feature, das Bettina Völter und Ilse Ziegenhagen für den Berliner Radiosender DS-Kultur gemacht haben, heißt Goldkettchenzeit und schildert ebenso lakonisch wie einfühlsam Zustände und Stimmungen von Jugendlichen in einer Kleinstadt im Havelland. Die Zustände sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Den einen ödet der neue Materialismus mit seinen Statussymbolen an, während die andere sich für alles Coole begeistert und ein Dritter das Fitneßstudio als Lebensziel erkannt hat. Doch auf allen lastet die Arbeitslosigkeit einer ganzen Region. Denn früher, da kamen aus Premnitz „Dederon“ und „Wollpryla“ („das wollige Wunder aus der Retorte“), da bündelte sich in diesem 10.000-Seelen-Nest der Stolz einer Nation auf seine Kunstfaser und überhaupt alles Synthetische. Jetzt ist da nur noch die Altlast eines verrottenden Chemiewerkes. Und wo früher 14.000 Hände „fröhlich schafften“, breitet sich inzwischen eine Geisterstadt aus. Die idyllisch und träge dahinfließende Havel und einige schöne alte Bauernhäuser spenden da kaum Trost. Der Jugendclub, wo kürzlich die Leute von DS-Kultur ihr Feature vor Ort präsentierten, ist eine prächtige Villa, in Vorkriegszeiten im Besitz der IG Farben. Brigitte Kirilow, die Feature-Redakteurin von DS- Kultur, freut sich über die „Premnitzer unter 20“, die zahlreich erschienen sind und mit undefinierbaren Erwartungen den Raum füllen. Man hat die Auswahl: Bockwurst oder Bratwurst. Bei den Schilderungen der Tristesse der Arbeitslosigkeit (Griff zur Flasche, Selbstmordgedanken) entsteht Gelächter. Den Leuten scheint so viel Intimität, wenn sie aus dem Lautsprecher kommt, peinlich zu sein. Ein paar Ältere im Saal — es sind die Offiziellen des Ortes — sind angetreten, um „Dimensionen geradezurücken“. Frau Flimm vom Arbeitslosenzentrum ist „ganz schön erschüttert“ über das, was sie da gehört hat. Sie beklagt die „unwahrscheinlich schwierige Situation“ und ruft den Jugendlichen zu: „Ihr dürft euch nicht hängenlassen.“ Auch der Bürgermeister bemüht sich, Optimismus zu verbreiten. Sein Rezept: Erstens: Unselbständigkeit abbauen, Zweitens: Heimatbewußtsein herstellen. In „mindestens fünf bis zehn Jahren“, so sagt er, werde Premnitz wieder ein Industriestandort sein. Doch, so fragt mehr als einer, was sollen die Leute bis dahin machen? Wozu beispielsweise die 70 Millionen vom Jugendministerium verwenden, von denen der extra angereiste Mann aus Bonn schwärmt und mit denen doch kein Job zu kriegen ist?
Der Regisseur des Features rückt den Jugendlichen mit dem Mikro unermüdlich auf den Pelz. Er will wissen, was von den Ratschlägen der Älteren „angekommen ist“, erntet jedoch nur flapsige Kommentare. „Ich hab nichts verstanden“, ist noch die deutlichste Antwort. Die Kluft, die sich hier auftut, erscheint unüberbrückbar, schon gar nicht mit jener Nachbeterei schöner Verheißungen, an deren Ende doch immer wieder das Eingeständnis steht, daß man sich „leider verschätzt“ habe mit der Entwicklung im Osten. Doch das Ziel, das Frau Kirilow formuliert hat, ist erreicht: Man hat „Lebensverhältnisse bekannt gemacht“, auch wenn's nicht das Fernsehen war, sondern nur das gute alte Radio.
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