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Endlich: ein neuer deutscher Film

■ Antje Vollmer über den mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichneten Film „Das Land hinter dem Regenbogen“ von Herwig Kipping. Eine Hymne.

Ein uralter Baum, kahl und knorrig über einem schwarz-starrenden Wasser, höhlenartig an ihn geschmiegt — oder doch gekreuzigt? — ein weißes Mädchen: Marie. Über ihr in den riesigen Zweigen hängen Kinderleiber kopfüber kopfunter in Galgenstricken, abseits ein weißes geflügeltes Pferd.

„Als ich ein Kind war, stand ich/ in Flammen. Alles, was ich tat,/ tat ich aus Liebe, wild und/ weich, wie das Meer,/ schweigsam und schön,/ wie die Blume, das Moos, der/ Wind, der Regenbogen über/ der alten Weide, der ich meine/ Geheimnisse erzählte, hohl-/ wangig, sanft und spröde vor/ Einsamkeit“ — sagt Marie.

Wie lange ist das her, daß Regisseure gewagt haben, Kindern solche Verse in den Mund zu legen? Der Film Das Land hinter dem Regenbogen von Herwig Kipping ist eine Zumutung, nicht nur für West-, sondern auch für Ostaugen. Er ist magisch und kühn. Er sucht nach Reinheit und bricht damit das äußerste Tabu einer tabufreien Bilderwelt. Der Film ist alles andere als vollkommen — und sogar damit hakt er sich in die visuelle Erinnerung ein.

Es ist eine Teufelsaustreibung mit den Mitteln der Kunst, mit wilden Bildern der Befreiung, des Hasses und einer Traurigkeit ohne jedes Maß. Es ist wahr: Den mißbrauchten Raum der Ästhetik wird man kaum mit politischen Resolutionen und sozialkritischen Analysen zurückerobern. Da steht Geist gegen Geist und Bild gegen Bild. Den Realen Sozialismus mit den Stilmitteln des sozialistischen Realismus, mit der milieugerechten und detailgenauen Prägnanz der Häkeldeckchen, Kachelöfen und Abraumhalden bebildern zu wollen, wäre aberwitzig. Die solide handwerkliche Ausbildung der Brecht- und Eisler-Schule, die für die DDR-Filmemacher selbstverständlich ist, kann die große Wut nicht ausdrücken. Herwig Kipping ist ein ästhetischer Anarchist, ein künstlerischer Fremdling — und so war es denn auch historisch konsequent, daß die alte DDR ihm nie eine Chance gab, einen Spielfilm zu drehen. Die Implosion dieser verwarteten Jahre prägt den Film — beim Zuschauen fängt man an, die nie gedrehten Filme dieses großen Talents zu vermissen.

Das Land hinter dem Regenbogen erzählt von der Kindheit in einem Dorf zur Stalin-Zeit. Das Dorf mit seinen tragenden Figuren hält die Phantasien und den Schrecken dreier Kinder besetzt: Marie, Hans und der „Regenbogenmacher“ irren umher in einer phantastischen surrealen Landschaft von morbider Schönheit, in die immer wieder die Erwachsenen einfallen. Der Vater, kleiner LPG-Vorsitzender, Mitläufer, eine eifrige Randfigur, wird in den nächtlichen Kriegsträumen von Partisanen gejagt, um sich jedesmal in den (rechten) Armbruch zu stürzen. Der Großvater, glühender Kommunist und schlauer Patriarch, der sich alles nimmt, was er nur kriegen kann, verehrt mit religiöser Inbrunst den großen Stalin; zum Zwecke der Welterlösung entlockt er den Kindern die kleinen Unbotmäßigkeiten ihrer Eltern durch obszöne Vertraulichkeiten. Am Ende wird er, auf dem Misthaufen seiner archaischen Lebensgeschichte, von seinen ideologischen Lüsten leibhaftig ans Kreuz genagelt — wie in einem Sittengemälde von Hieronymus Bosch besteigt ihn die nackte weiße Faunin. Die LPG-Bäuerin Liesbeth, die schöne Schlampe, träumt von Paris und daß sie einmal ganz groß rauskommt, und begräbt ihre Sehnsucht an den trostlosen Orten der schnellen Bedürfnisse: Scheune, Strohhaufen, Toilettenhäuschen. Der Arzt, ein alter Nazi, residiert auf dem Friedhof zwischen raschelndem Laub und verfallenden Engelsstelen, er macht den Frauen den roten Fleck aus dem Nachthemd. Der Erste Sekretär der Kreisleitung der SED braucht gar nicht auf sein Recht der ersten Nacht zu pochen: Lockert er den Hosenknopf, schieben die Bauern ihre halbwüchsigen Töchter, rot geschminkt, schon freiwillig durch die Tür mit dem Herzchen. Der schwarze Heinrich, der keine ausläßt, hält Marie, gefährlich schaukelnd, auf dem Knie, die bekommt so ein dünnes Stimmchen.

Die Gewalt ist überall: Blutig gehäutete Rehköpfe springen den Kindern in den Blick, dem Kaninchen wird ein Messer in den Balg gerammt, dampfend quellen die Därme aus der nächtlich geschlachteten Sau, der zuckende Kopf eines Huhns, das Wollknäuel, so gelb, unterm Stiefel.

Grotesk ist die politische Welt der Erwachsenen: Im Schnee wird die Ernte eingefahren, zu Stalins Tod werden Messen mit ewigen Episteln gelesen, die Spruchbänder der lachhaft gereimten Losungen hängen an den zerbröselnden Balken des alten Gutshofes, die Mohrrübe und der Maiskolben marschieren mit am 1.Mai, zur großen Kampfdemonstration, ein Mann in schwarzem Anzug mimt den Glockenschwengel. Als der 17.Juni das Dorf erreicht, entlädt sich eine Orgie von Gewalt und Gegengewalt. Der ganze Ort verbrennt zu lächerlichen Ruinen, an denen die roten Fetzen kleben, das Kreuz des Großvaters drohend überm Misthaufen, vor den Rändern des Dorfes nichts als Wüste.

Herwig Kipping hat ein großes Thema gefunden, das auch ein deutsches Thema ist: die Verwerfungen und Verwüstungen von Diktaturen in den Seelen der nächsten Generationen. Endlich bringt einer die dunkle Seite der „Gnade der späten Geburt“ ins große Kino — und die ohnmächtige Sehnsucht, davonzukommen. Marie (Stefanie Jantze) beschwört das „Land hinter dem Regenbogen“ mit ihren Augen und mit ihrer Stimme:

„Kann man von den Wurzeln eines/ Baumes sagen, sie seien dem Himmel/ weniger nahe als der/ höchste Ast?/ Kann man Feuer im Munde tragen, ohne/ sich die Lippen zu verbrennen?“

Der „Regenbogenmacher“ zaubert es manchmal herbei mit Glaskugeln und einem Zweig voller geschliffener Steine, das Land hinterm Regenbogen, er schiebt Marie Hände voll Erdbeeren in den Mund. Aber Marie muß Hans lieben, der ist schon gezeichnet mit blutigen Striemen am Hals, Botschaft seines gewalttätigen Vaters an die heile Kinderwelt. Hans muß wehtun, er kann nicht anders, er wirft die kleine Bombe in den Teich der Kinder, die schönen roten Fische treiben oben auf dem Wasser. „Sieh mal“, sagt Marie, „der hier lebt noch“, da hat ihn Hans schon mit verwegenem Gesichtsausdruck auf der Spitze seines Stockes aufgespießt. Den letzten lebenden Fisch trägt Marie in ihrem Kleid davon wie einen Sternentaler.

Nein, es wird kein Entkommen geben. Nur einmal gelingt es den Kindern, in einem Waschzuber das Zeichen des Regenbogens, den Geheimcode des anderen Lebens, einzufangen. Aber es war nichts, nur eine Spur von Öl, es will nicht kommen. Hans sprengt sich selbst in die Luft, der Wahnsinn springt von Haus zu Haus, mit den anderen Dorfbewohnern ziehen Marie und der „Regenbogenmacher“ in die Wüste, die keinen Regenbogen kennt. Das Warten dauert zu lange. Die Zerstörung ist bereits in Maries Gesicht geschrieben. Diese Wüste dauert länger als vierzig Jahre.

Es gab nur eine kurze Zeitspanne, in der dieser Film überhaupt eine Chance hatte, produziert zu werden. Im Jahre 1990 war er eines der Projekte, die die Gruppe junger Filmemacher „Da Da eR“ sich innerhalb der alten DEFA zur freien Entscheidung erkämpft hatte. Im Rahmen der DEFA ist dieser Film zu recht als Dokument des „Umkippens der Zeiten“ begriffen worden. Als der Film zur Rohschnittdiskussion im März 1991 im Babelsberger Studio gezeigt wurde, beschrieb einer, der dabei war, die Wirkung so: Es war „ein Augenblick, wo die Geschichte der DEFA umkippte und abgeschlossen wurde. Die Zensur war endgültig erledigt und glücklicherweise nicht durch eine Erklärung, sondern durch einen Film, vor dem die vergangene Zeit und ihre Vertreter plötzlich sprachlos wurden oder sich auf ästhetische Argumente zurückzogen. Die Wende stand im Raum und zerrte in den Köpfen und an dem braunen Gebälk. Die Stunde hatte geschlagen“ (Rolf Richter).

Der Film Das Land hinter dem Regenbogen (Buch und Regie: Herwig Kipping, Kamera: Roland Dressel, Dramaturgie: Erika Richter) wurde 1992 in Berlin mit dem Silbernen Band des Deutschen Bundesfilmpreises ausgezeichnet. Er erlebt derzeit in einigen Kinos in Westdeutschland verschiedene Voraufführungen, am 3.Juli wird er in der Akademie der Künste Ost-Berlin vorgestellt. Regulärer Bundesstart: Ende August (Basis-Filmverleih).

Das Land hinter dem Regenbogen. Buch und Regie: Herwig Kipping, mit Franciszek Pieczka, Winfried Glatzeder u.v.a., BRD 1991, 89Min.

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