: Wohnzimmer zu verschenken
■ Boris Becker wurde von Andre Agassi aus dem Paradies vertrieben: Der Amerikaner gewann mit 4:6, 6:2, 6:2, 4:6, 6:3 nach Verlängerung und trifft nun auf ein Rudiment: John McEnroe
Berlin (taz) — Boris Becker ist die Lust auf große Gesten gründlich vergangen. Wahrscheinlich ahnt er, daß er nicht mehr das Recht hat, sich wie der Herr des Centre Court aufzuführen. 1991 noch umarmte er seinen Bezwinger Stich innigst und verkündete jovial, daß er in seinem Haus Gäste so zu behandeln pflegt.
Nach der gestrigen Viertelfinal- Niederlage gegen seinen Freund Andre Agassi reichte es nur noch zum Abgang eines normalen Verlierers. Mit mürrischem Gesicht reichte Becker Agassi kurz die Hand, selbst sein sonst so kontaktfreudiger Tennisarm wanderte nicht über das Netz auf des Gegners Schulter. Kein Wort fiel zwischen den beiden, als sie nach artigem Diener vor der Herzogin von Kent in die Katakomben entschwanden.
Viel zu sagen gab es auch nicht. Höchstens die wenig spektakuläre Erkenntnis, daß der Bessere gewonnen hat. Denn die am Vortag beim Stande von 6:4, 2:6, 2:6, 4:3 (Sicht Becker) abgebrochene Partie wurde auch in der Verlängerung von dem US-Haarmonster beherrscht. Der vierte Satz ging mit 6:4 nach Leimen, der fünfte, entscheidende an Las Vegas. Tatsächlich erinnerte die Vorstellung des vollbärtigen Becker mehr an Provinztennis, verglichen mit den kraftvollen, risikoreichen Schlägen Agassis. Der Grundlinienspieler, bewaffnet mit Schirmmütze, Ohrring und langen Flatterhaaren, passierte den Serve-and-Volley- Spezialisten Becker ein ums andere mal. Gewalttätig knallte er dem 24jährigen die beidhändigen Rückhandreturns vor die Füße. Zu selten kam der erste Aufschlag von Becker — die einzige Waffe, die Agassi wirklich in Schwierigkeiten hätte bringen können. Zu oft mußte Becker — „der Aufschlag ist das Tor zum Spiel“ — wie ein Dienstbote durch die Hintertür in sein Wohnzimmer schleichen, wo ihm mit freundlichem Dank sein Aufschlagspiel abgenommen wurde. Zwei Breaks schaffte Agassi im fünften Satz, ging 5:1 in Führung und ließ sich auch nicht bremsen, als Schiedsrichter Perry seinen zweiten Matchball ausgab. Auch diese letzte Chance konnte Becker nicht mehr nutzen. Kurz nur bäumte er sich zur alten Form auf, kämpfte und fightete ein Break zum 3:5 herbei. Doch beim fünften Matchball genügte Agassi ein zweiter Aufschlag. Becker schlug ins Netz — Aus im Viertelfinale für den Mann, der in sieben Jahren sechsmal im Finale stand. Diesmal hätte er dort nichts verloren gehabt. Zu langsam sind seine Aktionen, der blitzschnelle Agassi erwischte ihn ständig auf halbem Weg zum Netz. Und von der T-Linie kann selbst ein Boris Becker keinen Volley mehr plazieren. Die Niederlage gegen Agassi war Beckers erste Fünf-Satz-Niederlage in diesem Jahr — und die sechste gegen Andre Agassi. Zum zweiten Mal erst spielt der Amerikaner in Wimbledon, daß er bis 1991 wie den Teufel gemieden hatte, weil dort seine bunten Unterhosen nicht geduldet wurden. Vergangenes Jahr erst überwand er sich, auf weiße Höschen umzusteigen. Mit denen trifft er heute auf eine weitere Riesenüberraschung: Denn statt Guy Forget heißt der Gegner Agassis John McEnroe. Vor den schreckensgeweiteten Augen der hochherrschaftlichen Mitglieder des All England Lawn and Tennis Club — sie haben dem ehemaligen Wimbledon-Sieger wegen Unflätigkeit die Ehrenmitgliedschaft entzogen — besiegte der größte Schreihals der Tenniswelt den aufschlagstarken Franzosen in drei Sätzen mit 6:2, 7:6, 6:3. Im zweiten Finale hauen sich die beiden Chefaufschläger Pete Sampras (USA) und Goran Ivanisevic (Kroatien) ihre Services um die Ohren. Gerüchten zufolge werden bei den Buchmachern Wetten angenommen, ob es im Laufe des Spiels zu einem Ballwechsel kommen wird. Zuvor hatte Ivanisevic den sich heftig wehrenden Stefan Edberg (Schweden) mit 6:7, 7:5, 6:1, 3:6, 6:3 rausgeworfen, während Sampras den Titelverteidiger Stich in 87 Minuten mit 6:3, 6:2, 6:4 nach Hause entließ. Ein Abgang, den die englische Presse hämisch kommentierte. 'Daily Star‘: „Michael Stich, der Wimbledon-Sieger, der den Ruhm gehaßt hat, kann wieder zurückgehen und ein Niemand sein.“ Der Niemand, das ist die Nummer vier in der Welt. Aber was bedeutet das schon in Wimbledon. miß
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