: „Die Leute holen sich, was sie kriegen können“
Das von Clan-Kriegen zerrüttete Somalia ist zum Kristallisationspunkt der Frage nach einer neuen Sicherheitspolitik für Afrika geworden/ Vorschlag für OAU-Friedenstruppe stößt auf Skepsis: „Die OAU kann sich ja nicht einmal selbst organisieren“ ■ Aus Mogadischu Bettina Gaus
Die „Arab al Gazira“ hatte wertvolle Fracht an Bord, als sie in der vergangenen Woche im Hafen von Mogadischu festmachte: mehr als 4.300 Tonnen Nahrungsmittelhilfe — ein Geschenk des Königreichs Saudi- Arabien für die notleidende Bevölkerung Somalias. Mehl, Zucker, Öl, Reis und Milchpulver wurden gespendet.
Aber die großzügige Geste hat bei Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen vor Ort statt freudiger Dankbarkeit nur Entsetzen hervorgerufen. Güter wie Zucker und Milchpulver sind allzu kostbar — und damit eine tödliche Gefahr, ein allzu lohnendes Ziel für Plünderer. „Wir haben immer nur um Güter von geringem Wert gebeten“, sagt Graham Roberts von der Organisation „Care“. Ungemahlenen Weizen liefert das Welternährungsprogramm WFP, Reis, Öl und Bohnen das Rote Kreuz.
Die Sorgen im Zusammenhang mit dem Danaergeschenk der Saudis waren begründet: Schon beim Entladen stürmten Bewaffnete trotz scharfer Bewachung der Güter in den Hafen. Es gab Tote. Kaum jemand glaubt, daß es gelingen kann, die Hilfspakete an ihre Bestimmungsorte zu bringen, die von einem Komitee festgesetzt werden, das aus UN-Mitarbeitern und Angehörigen verfeindeter Fraktionen besteht. Es wird wohl wieder zu einer „unorganisierten Verteilung“ kommen, wie Helfer vor Ort das nennen, was gemeinhin als Raubzug oder Plünderung bezeichnet wird.
Hungernde essen Blätter und Tierfelle
Erst vor knapp einem Monat räumten Banden zwei Hilfsflugzeuge leer. Sechs Tonnen Unimix, eine Spezialnahrung für unterernährte Kinder, gingen verloren. Auf den Märkten tauchen später geplünderte Lieferungen wieder auf und lassen dort die Preise stürzen — für Somalis, die wenigstens noch ein bißchen Geld haben, eine kleine Erleichterung. Anderen ist gerade das ein Dorn im Auge: Anfang März wurde der Frachter „Marco Polo“ mit 600 Tonnen Getreide an Bord beschossen und zur Umkehr gezwungen — im Auftrag von Geschäftsleuten, die den Marktpreis hoch halten wollten.
Manche Helfer haben durchaus Verständnis für die Plünderer: „Die Leute holen sich, was sie kriegen können, weil sie Angst haben, sonst leer auszugehen“, sagt einer. Rund eineinhalb Jahre nach dem Sturz des Diktators Siad Barre und dem sich daran anschließenden Gemetzel verfeindeter Clans sind etwa die Hälfte der rund sieben Millionen Somalis vom Hungertod bedroht. Rund 200.000 Flüchtlinge drängten in den letzten Monaten in die Hauptstadt, weil die Lage in der Provinz noch schlimmer ist. „In der Stadt Baidoa haben wir etwa 30.000 Leute gesehen, die nur noch wandelnde Skelette waren“, sagt Dominik Stillhart vom Roten Kreuz. „Sie hatten überhaupt gar nichts mehr, manche haben Blätter und Tierfelle gegessen.“
Die schlechte Sicherheitslage aber erschwert oder verhindert Hilfsaktionen. Niemand hat die Kontrolle über das Land. Zwar wird der vor rund vier Monaten unter Mithilfe der UN ausgehandelte Waffenstillstand zwischen rivalisierenden Gruppierungen in Mogadischu einigermaßen eingehalten, nach wie vor aber klirrt die Stadt vor Waffen. Täglich kommt es zu kleineren Schießereien. „Noch immer bekommen wir jeden Tag zwischen 35 und 50 Patienten, die meisten davon mit Schußwunden“, berichtet Stephen Tomlin, dessen Organisation „International Medical Corps“ am Digfer-Krankenhaus in Mogadischu arbeitet. Waffen zu beschaffen ist kein Problem: Eine Kalaschnikow kostet zwischen 20 und 60 Dollar, zwei Geschosse sind schon für eine Zigarette zu bekommen.
Im Norden der Stadt hat Interimspräsident Ali Mahdi Zivilisten das Tragen von Waffen verboten. Wer sich nicht daran hält, wird erschossen. Jetzt ist es dort ruhiger als im Süden Mogadischus. Aber die drastische Methode bereitet manchen ausländischen Beobachtern dennoch Kopfzerbrechen: „Wer sagt denn, daß Ali Mahdi nicht unter dem Deckmantel der Entwaffnung auch seine Gegner ausschaltet?“ sorgt sich ein UN-Mann. „Wenn wir das tolerieren, stehen wir irgendwann im Kreuzfeuer der Kritik.“
Welche andere Lösung wäre denkbar? Ein Machtvakuum, wie es jetzt in Somalia herrscht, wäre zu Zeiten des Ost-West-Konflikts nicht vorstellbar gewesen. Strategische Interessen der Großmächte am Horn von Afrika haben dazu geführt, daß zunächst die UdSSR und später die USA Siad Barre mit massiver Militärhilfe unter die Arme gegriffen haben — schweren Menschenrechtsverletzungen des Regimes wurde in diesem Zusammenhang keine Beachtung geschenkt.
„Nahrung gegen Waffen verteilen?“
Jetzt, nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt, ist Somalia zu einem Kristallisationspunkt der Frage nach einer neuen Sicherheitspolitik in Afrika geworden, in seiner Bedeutung dem Bürgerkrieg in Jugoslawien für Europa vergleichbar. Dem jetzt von der OAU diskutierten Vorschlag einer afrikanischen Friedenstruppe stehen die meisten ausländischen Helfer in Mogadischu skeptisch gegenüber: „Die OAU schafft es ja nicht einmal, sich selbst zu organisieren“, meint ein afrikanischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. „Die Mitgliedsstaaten würden es nie fertigbringen, ihre nationalen Interessen aus derartigen Aktionen herauszuhalten.“ Ein Kollege beurteilt das ähnlich: „Ich kann mir keine afrikanische Sicherheitstruppe vorstellen, die gut genug ausgerüstet und trainiert ist, um mit der Lage hier fertig zu werden.“ Er hat eine andere Idee: „Vielleicht könnte man Nahrung gegen Waffen verteilen. Das hört sich zwar gräßlich an, aber es könnte funktionieren.“ Allerdings wohl nur dann, wenn keine neuen Gewehre mehr ins Land kommen — eine derzeit kaum erfüllbare Voraussetzung. Erst vor einigen Tagen wurde die russische Crew eines WFP-Hilfsflugzeuges dabei ertappt, wie sie illegal heimlich nach Mogadischu flog. Bargeld soll sie geschmuggelt haben, hieß es in einer kenianischen Tageszeitung, an eine Waffenlieferung glauben andere Beobachter.
Was auf den ersten Blick wie ein reines Sicherheitsproblem aussieht, berührt in Wahrheit Kernprinzipien internationaler Politik: Ist das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität der Völker höher einzuschätzen als die Möglichkeit der Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung? Hat eine internationale Organisation das Recht, sich auch gegen den Willen kriegführender Parteien in einen Konflikt einzumischen? Die meisten ausländischen Helfer in Mogadischu beantworten diese Fragen eher pragmatisch als theoretisch. Die große Enttäuschung: anders als von vielen erwartet, haben die Nahrungsmittellieferungen die gespannte Lage nicht entschärft. „Es gibt zu viele interessierte Parteien und keine funktionierende Wirtschaft“, sagt ein Helfer. „Alles was mit Hilfsgütern zusammenhängt, ist derzeit die einzige Einnahmequelle.“
UNO-Friedenstruppen die einzige Lösung?
Un-Friedenstruppen-Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur erscheint deshalb jetzt neben der Nothilfe als vorrangiges Ziel. Die deutsche Organisation „Help“ will ein Programm starten, das Bauern neben Nahrung auch mit Saatgut versorgt, um sie zu veranlassen, auf ihren Höfen zu bleiben. Die große Frage bleibt: Haben derartige Projekte Zukunft, so lange es kein sicherheitspolitisches Konzept für Somalia gibt? Den Einsatz von UNO- Friedenstruppen halten noch immer manche ausländischen Beobachter für die einzige Lösung, aber dazu haben sich die Vereinten Nationen bislang nicht entschließen können. Immerhin aber werden am Wochenende 50 UN-Sicherheitskräfte in Mogadischu eintreffen, die die Einhaltung des Waffenstillstandes überwachen sollen. Unbewaffnet.
[Bloß gut, daß Bettina Gaus in Afrika weilt. Frau würde sonst glatt den Eindruck gewinnen, daß dieser Erdteil ausschließlich mit Männern bevölkert ist (Mitarbeiter, Beobachter, Patienten, Helfer, Bauern etc.). d.sin]
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