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Rußland: Fest verschlossene Zahnpasta mit Riß

Jelzin-Ukasse zur Wirtschaftsreform hinken der Realität hinterher/ Nutznießer sind Neureiche und Leiter alter Staatsbetriebe  ■ Aus Moskau B. Kerneck

Das neue Finanzprogramm der russischen Regierung ist zwar nicht direkt zur Vorlage beim Internationalen Währungsfonds bestimmt. Dennoch ist die Absicht des Dokumentes unverkennbar: der Welt soll Treue zum eingeschlagenen Kurs Richtung Marktwirtschaft demonstriert werden. Bei der vorangegangenen Debatte im Obersten Sowjet schlugen die Wellen letzte Woche bisweilen haushoch — vor allem am letzten Donnerstag, als die mögliche Senkung der Mehrwertsteuer von 28 auf 14 Prozent auf der Tagesordnung stand. Der amtierende Ministerpräsident schockierte die Öffentlichkeit mit Kassandrarufen. Eine solche Entscheidung, so Gaidar, bedeute nicht nur das Ende seiner, sondern jeder beliebigen Regierung in Rußland. Er drohte mit sofortiger Erhöhung des russischen Haushaltsdefizites von 60 auf 120 Milliarden Rubel. Auch würden, sollte der Vorschlag eine Mehrheit finden, sofort staatliche Subsidien für die Landwirtschaft und die unbehauste Armee eingestellt. So brachte Gaidar die murrende Parlamentariermehrheit schließlich von ihrem populistischsten aller angestrebten Beschlüsse ab. Mit der endgültigen Festlegung dieser Steuer wird sich nun, von der Regierung gut kontrolliert, die Budget-Komission des Parlamentes befassen.

Man könnte also von einem Sieg der Reformer sprechen. Doch mehr und mehr machen sich im ökonomischen Kurs der russischen Regierung gewisse innere Widersprüche bemerkbar. Dies gilt für die Politik gegenüber den traditionellen großen Staatstrusts, deren führende Repräsentanten neuerdings in der Regierung vertreten sind, und folglich auch für die Finanzpolitik. Ein Beispiel: die Vereinheitlichung der verschiedenen Rubelkurse und ein Privatisierungs-Ukas Präsident Jelzins flankierten in der vorigen Woche den parlamentarischen Übergang zur zweiten Etappe der Reformen. Schon in den nächsten Monaten, so Jelzin, sollen 30 Prozent aller Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften verwandelt werden. Beim näheren Hinsehen aber hinken beide Schritte entweder der Realität hinterher oder sind aufgrund der Gesetzgebung der letzten Monate leicht zu unterlaufen.

Genau das geschah auch mit dem noch warmen Präsidenten-Ukas über den Bankrott veralteter und parasitärer Staatsbetriebe. Die zahlungsunfähigen Betriebe hatten sich kurz nach dem Beschluß gegenseitig Kredite zur Herstellung ihrer von niemandem benötigten Produkte gewährt. Dabei wurde keine Minute auch nur an die Möglichkeit einer Rückzahlung gedacht. Sie behielten recht. In seinem neuesten Erlaß hat Jelzin eine Art Absolution für alte Schulden erteilt. Bei ihm zumindest schlägt die „Stunde Null“, und alle beginnen neu zu zählen.

Im Gegensatz dazu hatte die russische Staatsbank bisher eine sehr konsequente und vorsichtige Kreditpolitik verfolgt. Bei den nächsten GUS- Gipfeln, so hieß es offiziell, wolle man auch die anderen Staaten der Rubel-Zone strikt an diese Politik binden. Die Realität allerdings sieht anders aus: „Das ist, als ob man eine geschlossene Zahnpastatube fest im Griff hat, sich freut, daß der Verschluß so schön dichthält, und dabei gar nicht merkt, wie einem das weiße Zeug aus einem Riß am unteren Ende die ganze Zeit auf die Hosen rieselt“, schreibt dazu der Kommentator der Zeitung 'Nesavisimaja Gaseta‘, Michail Leontjew.

Für die Befürworter der sogenannten „Erhaltung des ökonomischen Potentials“ der ehemaligen UdSSR hat Jelzin übrigens in seinem neuesten Ukas eine Rosine eingebaut: Den heutigen Direktoren wird ihr Posten auch in den neuen Aktiengesellschaften garantiert. Somit werden genau diejenigen übervorteilt, die es als Neureiche sowieso längst gelernt haben, aus der Hyperinflation und dem schwachen Rubel Gewinne zu ziehen. Mit Geldwechselspekulationen im großen Maßstab wird es allerdings durch die Vereinheitlichung des Rubelkurses in Zukunft schwieriger.

Daß man für Rubel — wenn auch nur für sehr viele — wieder etwas zu kaufen bekommt, hat ausländische Investoren in der letzten Zeit immerhin ermutigt. Bald schon sollen vor den Devisengeschäften in den russischen Großstädten Wechselbüdchen aufgestellt werden. Hier können dann alle BürgerInnen ihre Holzrubelchen gegen klingende Währungen eintauschen. Ganz offen besorgten dies schon im Mai und Juni Bauchladen-Wechsler auf den Flohmärkten. Eine hierzulande ganz normale Absurdität des Alltags: noch immer sitzen einige hundert gerichtlich verurteilte Häftlinge wegen der Ausübung genau dieser Tätigkeit in russischen Gefängnissen.

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