: Auf einsamem Posten
Lehrerinnen in Ostdeutschand, die weibliche Themen forcieren, rufen heftige Irritationen hervor/ In den Lehrplänen der DDR geisterte das seltsame Attribut „geschlechtsneutral“ — und so wurde auch unterrichtet ■ VON ULRIKE HELWERTH
Eine Unsitte hat sich breit gemacht im Deutschunterricht der Klasse 11/3 des Oranienburger Runge-Gymnasiums: der exzessive Gebrauch der Endsilben „in“ und „innen“ zur Kennzeichnung von Wesen weiblicher Natur, von Begriffen wie „Schülerinnen“, „Lehrerin“, „Autorinnen“.
Die 17 Jahre alte Schülerin Susanne nervt das. Sie findet es „sehr übertrieben“, daß sich Frauen „in dieser Form selber abspalten vom Mann und Wert darauf legen, daß sie Frauen sind und dadurch ja eigentlich erst eine Sonderbevorzugung oder Benachteiligung hervorrufen“. Schließlich müsse sich eine Frau „immer gleichstellen mit dem Mann“. Susanne ist nicht die einzige, die das Novum überzogen und lästig findet; ein paar ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden sind darin ganz ihrer Meinung. Andere hingegen sind begeistert, und sie scheuen sich noch nicht einmal, von „Menschen und Menschinnen“ zu reden. Oder gar in Aufsätzen das praktische große „I“ zu schreiben. Und das — obwohl laut Duden zweifelsfrei regelwidrig — geht bei der Korrektur dann auch noch unbeanstandet durch, wie Susanne mißbilligend feststellen mußte.
Eine der RegelverstoßerInnen ist die 17 Jahre alte Ina. Sie gibt sich inzwischen nicht mehr damit zufrieden, daß sie und ihre Geschlechtsgenossinnen nach alter Gewohnheit unter männliche Oberbegriffe fallen. Denn: „Frauen sind ein anderes Geschlecht und müssen daher auch explizit genannt werden.“ Vor kurzem gipfelte der Geschlechterdisput über die weibliche Sprachform in der Klasse 11/3 in einer Diskussionsrunde „Schadet übertriebener Feminismus der Emanzipation?“
„Frauen haben nie etwas geleistet“
Schuld an der Kontroverse ist, natürlich, eine Frau — die Deutschlehrerin Ulrike S. Eigentlich habe es im Unterricht „ziemlich harmlos“ angefangen, sagt sie, eben mit dem konsequenten Gebrauch der weiblichen Sprachform ihrerseits. Das habe die SchülerInnen heftig irritiert, „weil sie durch mich offensichtlich zum erstenmal bewußt darauf hingewiesen wurden, daß es sowohl Männer als auch Frauen in diesem Land gibt und daß das auch in der Sprache verdeutlicht werden kann“. Der Irritation folgte Belustigung, nach und nach aber wurde das Thema vertieft, sei es durch Prosa und Lyrik von Autorinnen, durch Untersuchungen über Frauenbilder und Frauenfiguren in der Literatur oder auch durch Texte und Aufsätze der feministischen Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch über das Deutsch „als Männersprache“.
Aber inzwischen geht es nicht nur mehr um die Sprache. Ein paar SchülerInnen haben die angebliche Gleichberechtigung auch unter anderen Aspekten unter die Lupe genommen. Ina zum Beispiel ist aufgefallen, daß „in unseren Geschichtsbüchern permanent von berühmten und bekannten Männern die Rede ist und Frauen immer nur eine untergeordnete Rolle spielen“. Und weil sie sich das nicht vorstellen kann, ging sie vor kurzem zu ihrem Geschichtslehrer und fragte nach, was denn Frauen in dieser Zeit — Stoff war gerade die Renaissance — gemacht hätten. Der Lehrer besorgte ihr ein Buch über Frauen im Mittelalter. Ina hat das zwar gefreut, aber sie findet es dennoch „sehr schade, daß Frauen in unseren Geschichtsbüchern kaum vorkommen und im Unterricht nicht auf sie eingegangen wird“.
Ihr Klassenkamerad Lars findet dazu nur die Anmerkung: „Offenbar haben Frauen in der Geschichte nichts geleistet, sonst kämen sie darin auch vor.“
In den Schulbüchern haften Rollenklischees
Vorgeknöpft hat sich Ina auch das Deutschbuch ihres Bruders, dritte Klasse. Sie ärgert sich über die Rollenklischees, darüber, daß der Junge als „abenteuerlustig“ dargestellt wird, ein Fahrrad geschenkt bekommt und mit seinem Freund ein Telefon aus Blechbüchsen bastelt, während das Mädchen „ständig Angst hat und am liebsten ihren Puppenwagen durch den Park schiebt“. Und: „Während die Mutter das Kind mit dem Einkaufszettel losschickt, hält der Vater den Jungen dazu an, sich auf Abenteuersuche zu begeben.“ Solche Schulbücher sind keine Spezialität des Landes Brandenburg oder der anderen neuen Bundesländer. Schließlich wird dort inzwischen aus empfohlenen Westbüchern gelehrt und gelernt. Zwar kritisieren frauenbewegte Pädagoginnen und Studentinnen in der alten Bundesrepublik unter anderem seit Jahren den Sexismus in den Schulbüchern, können auch ein paar Erfolge verzeichnen in Form von Beschlüssen, Richtlinien und Empfehlungen, die in einigen Bundesländern inzwischen verabschiedet wurden. Aber Mühlen mahlen bekanntlich langsam.
So faßte das Berliner Abgeordnetenhaus unterm rot-grünen Senat im November 1989 einen Beschluß zur „Gleichberechtigung in der Schule“, der den Schulsenat zu weitreichenden Aktivitäten aufforderte. Darin ging es nicht nur darum, alle Schulbücher von einer „entsprechend qualifizierten“ Kommission unter dem Aspekt „Gleichstellung der Geschlechter und Lebensweisen“ auf (geschlechts-)diskriminierende Darstellungen überprüfen zu lassen und die Rahmenpläne für den Unterricht entsprechend zu revidieren. Verlangt wurde unter anderem auch eine stärkere Berücksichtigung und Förderung von Mädchen in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern, zusätzliche Übungsmöglichkeiten für Schülerinnen an Computern, die Orientierung von Mädchen und Jungen auch auf „untypische“ Berufe.
Ferner sollte der Schulsenat alle zwei Jahre darüber Bericht anfertigen und veröffentlichen, welche Maßnahmen „zum Abbau der geschlechtsspezifischen Diskriminierung“ praktiziert wurden und mit welchem Erfolg. Ende 1991 war der Referentinnenentwurf fertig, gesehen haben ihn die Abgeordneten jedoch bis heute noch nicht.
Im Osten zieht das Thema einfach nicht
Einen ersten Beitrag leistete das Haus des neuen Schulsenators Jürgen Klemann (CDU) aber schon: die weibliche Sprachform, unter Rot- Grün mühsam eingeführt, wurde wieder abgeschafft. In den Texten der Berliner Schulverwaltung, etwa im Schulverfassungsgesetz, gilt wie in der guten alten Zeit das umfassende Maskulinum, also: Schüler, Lehrer, Schulleiter...
Feministischer Kleingeist, wer sich entrüstet. Schließlich gibt es im Bildungsbereich derzeit wahrlich schwerwiegendere, dringendere Aufgaben, die die Schulministerien und -behörden rotieren lassen: die Umstrukturierung des gesamten ostdeutschen Schulsystems nach westlichen Kriterien, die Auslese, Um- und Weiterqualifizierung der PädagogInnen, die Ausarbeitung der neuen Rahmenpläne.
Was sind dagegen schon Probleme wie „Sexismus in der Schule“, „Koedukation auf dem Prüfstand“ oder gar „Männersprache/Frauensprache“? Auch in den alten Bundesländern interessierten sich in den vergangenen Jahren dafür höchstens einige Sprach-, Geschichts- und Biologielehrerinnen. Und in den neuen? Bisher keineR.
Zu dieser Erkenntnis zumindest kommt das Pädagogische Landesinstitut Brandenburg (PLIB). So sehr sich MitarbeiterInnen — aus Ost und West — dieser neugegründeten Fortbildungseinrichtung für LehrerInnen auch mühen mögen: das Thema Gleichberechtigung zieht einfach nicht, entsprechende Seminare bisher fielen regelmäßig aus — mangels Anmeldungen. „Traurig aber verständlich“, sagt Marianne Horstkemper, eigentlich Akademische Rätin im Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung an der Uni Oldenburg, derzeit aber freigestelltes „Mädchen für alles“ im PLIB in Ludwigsfelde bei Potsdam. Verständlich, weil die Lehrerinnen mit den gewaltigen Veränderungen in der Schule und ihrer ureigensten, ungeklärten Zukunft tatsächlich ganz andere Probleme hätten. Traurig, „weil die Sensibilität für die Wahrnehmung unterschwelliger Diskriminierung in den neuen Bundesländern insgesamt weniger ausgeprägt und insbesondere für die Frauen hier überhaupt kein Thema ist. Da fehlen eben die Diskussionen, die in den letzten zehn Jahren in der alten Bundesrepublik stattgefunden haben.“ Feministischer Missionierungseifer sei jedoch fehl am Platze, würde von Ostfrauen schnell als „weiterer Ausweis von Landnahme und Wessimentalität“ verstanden. Da müsse man „sehr sensibel“ und „vorsichtig“ sein, damit man nicht „in unnötige Kontroversen“ gerate und keine Aversionen oder Aggressionen, gerade bei Frauen, weckt, warnt die Pädagogin pädagogisch.
In der DDR war nur Sport geschlechtsspezifisch
Rund 75 Prozent der Lehrkräfte in den allgemeinbildenden Schulen der DDR waren Frauen, in allgemeinbildenden Oberschulen oft sogar bis zu 90 Prozent. Die wenigen Männer unterrichteten bevorzugt in den naturwissenschaftlichen Fächern in der Ober- und Abiturstufe, in der Unterstufe waren die Frauen fast ganz unter sich. Diese „Feminisierung des Erziehungssystems“, gepaart mit dem Fakt, daß sowohl die Lehrpläne — mit Ausnahme von Sport — als auch die Konzepte für die Unterrichtsgestaltung als „geschlechtsneutral“ galten, also durchweg die Tatsache ignorierten, daß Mädchen und Jungen bereits mit recht stabilen geschlechtstypischen Denk- und Verhaltensweisen, Interessen und Erfahrungen — etwa im Umgang mit Technik — zur Schule kommen, hält Elisabeth Fuhrmann für eines der großen Probleme in der ostdeutschen Bildung. Die vielen Lehrerinnen und die völlige Mißachtung der Geschlechterfrage hätten sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen zu „Einseitigkeiten in der Erziehung“ geführt, schreibt die frühere Professorin für Pädagogik in Ost-Berlin und heutige Referentin im PLIB in einem Aufsatz*. Dabei seien durch das unterbewußte, vor allem sachbezogene Erziehungsverhalten vieler weiblicher Lehrkräfte Jungen bevorteilt und Mädchen benachteiligt worden. Und das sei deshalb besonders prekär“, weil nicht nur in der Schule „das weibliche Element“ dominierte, sondern auch in vielen Familien die Erziehung in erster Linie eine Angelegenheit der Mütter gewesen sei. Eine „reale Chancengleichheit“ für Mädchen und Jungen hält die ostdeutsche Erziehungswissenschaftlerin nur für möglich, wenn „auf dem Hintergrund einer größeren gesellschaftlichen Sensibilität gegenüber der Geschlechterfrage im allgemeinen“ die unterschiedlichen Ausgangssituationen von Mädchen und Jungen im Unterricht beachtet werden. Wenn in Rechnung gestellt wird, daß Mädchen und Jungen auf ungleiche Weise lernen, aber zu gleichwertigen Lernergebnissen gelangen, und wenn Lehrerinnen und Lehrer lernen, ihr eigenes Rollenverhalten zu überprüfen und bewußt zu steuern.
Gleichberechtigung in DDR wurde verordnet
Auch Ulrike S. gab in ihren ersten beruflichen Lehrjahren „geschlechtsneutral“ Deutsch- und Englischunterricht an einer Polytechnischen Schule. Geschlechterdifferenz und -erziehung waren „kein Thema“ — weder im Studium noch in der Schule, „denn die Gleichberechtigung war ja per Dekret und Frauentag hergestellt“. 1987 bekam sie eine dreijährige Freistellung für eine Promotion an der Humboldt-Universität Berlin, forschte über Kommunikationsstrukturen im Unterricht und hatte dabei ihr erstes Aha-Erlebnis in Sachen Geschlechterfrage: Ihre Doktorinarbeit fiel der Wende zum Opfer. Denn statt am Schreibtisch saß sie im Frühjahr 1990 für den Unabhängigen Frauenverband am bildungspolitischen Runden Tisch und kehrte danach ins Lehramt zurück. Mit „geschärftem Blick und Bewußtsein“ für die Geschlechterziehung im Unterricht. Im vergangenen Schuljahr führte sie beispielsweise mit vier Schülerinnen und zwei Schülern eine Projektarbeit über die Ausbildung von Mädchen und Jungen in den naturwissenschaftlichen Fächern an ihrer Schule durch. Das Ergebnis, so die 34 Jahre alte Lehrerin, habe genau bestätigt, was westdeutsche ErziehungswissenschaftlerInnen bereits seit Jahren sagen: Mädchen werden im naturwissenschaftlichen Unterricht systematisch benachteiligt. Die anschließende Diskussion in der Klasse habe aber deutlich gemacht, daß „tradierte Bilder in der eigenen Erziehung stark verhindern, daß die jungen Leute den Blick dafür frei kriegen“.
In Konkurrenz mit männlichen Wesen
Einige aber arbeiten ernsthaft daran: Dem 17 Jahre alten Sascha ist in Mathe und Physik aufgefallen, daß einer Schülerin bestimmte Problem- und Fragestellungen viel ausführlicher erklärt werden, „weil die Erwartung da ist, daß sie das nur versteht, wenn man es ihr so breit erklärt, weil der Erfahrungshorizont vielleicht geringer ist“. Außerdem müßten Mädchen in der Regel „immer ein Stück besser“ sein, um herausgestellt zu werden. Gleichzeitig habe er beobachtet, daß ihre falschen Antworten stärker bewertet würden als die der Jungen.
Ina, deren naturwissenschaftliches Interesse in der Schule „nicht so geweckt wurde“, kann nur bestätigen, daß sie allzu häufiges lautes Nachfragen im Unterricht vermeidet, weil sie sich eventueller Häme ihrer Klassenkameradinnen nicht aussetzen will. Wenn an ihrer Schule spezielle Frauen-Förderklassen für Naturwissenschaften eingerichtet würden — wie es von westdeutschen Kritikerinnen der derzeit praktizierten Koedukation schon seit geraumer Zeit gefordert wird —, wäre Ina gern dabei.
Susanne hingegen verspricht sich von einem solchen Experiment nicht sehr viel. Schließlich müsse sie auch im späteren Leben „in Konkurrenz mit männlichen Wesen treten“ und die Schule, so wie sie ist, biete dafür ein gutes Training. Lars ist die Frage nach geschlechtsgetrennten oder -gemischten Klassen „solange egal, wie im naturwissenschaftlichen Unterricht sowieso nur Faktenwissen vermittelt und reproduziert wird“. Sobald dort aber auch auf „naturphilosophische Richtungen“ eingegangen würde, möchte er auf die Klassenkameradinnen „nicht verzichten, weil es gerade in sozialen und philosophischen Fragen wichtig ist, daß sowohl weibliche als auch männliche Schüler ihre Ansichten und Meinungen dem anderen Geschlecht darstellen, und weil dabei oft ganz verschiedene Betrachtungsweisen auftreten“.
Im ersten Schulreformgesetz des Landes Brandenburg heißt es: „Die Schule (...) gewährt die gleichberechtigte Bildung und Erziehung hinsichtlich der Geschlechter und der kulturellen Herkunft (...)“ Und Ulrike S. wäre froh, „wenn wir das auch mal in der Praxis verankern könnten“.
Noch fühlt sie sich in dieser Frage in ihrer Schule „auf einsamem Posten“, obwohl die meisten KollegInnen „meine Macke“ inzwischen tolerieren. Ein paar honorieren ihre „erzieherischen Maßnahmen“ sogar, sagen selbst schon „Lehrerin“ oder „Schülerinnen“, und alle Mitteilungen des LehrerInnenrats oder der Schulkonferenz werden inzwischen mit „I“ geschrieben — damit sich alle angesprochen fühlen.
* Elisabeth Fuhrmann, „Lehrerinnen im Schulalltag der DDR. In: 'Die Deutsche Schule‘, 1. Beiheft 1990, Seiten 185-197.
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