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Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein

■ Selbst mit immensen Millardenhilfen läßt sich die russische Wirtschaft nicht sanieren

Schon Monate vor dem Weltwirtschaftsgipfel hatte sich Boris Jelzin für den schwierigen Auftritt in München gewappnet. Mehrfach kündigte der wortgewaltige Präsident gegenüber den westlichen Regierungschefs und IWF-Vertretern an, er werde „schlagende Beweise“ für die russische Reformbereitschaft liefern. Sogar den Segen der orthodoxen Kirche erflehte Russlands Präsident für die Verhandlungen — schließlich ging es darum, die lange in Aussicht gestellten Finanzhilfen loszueisen. Doch von den versprochenen Vorleistungen des Kremlherrn ist bislang wenig zu sehen; die Reformen hängen den Ankündigungen weit hinterher.

Selbst von den auf der IWF-Frühjahrstagung ausgehandelten Vorraussetzungen für die Wirtschaftshilfe ist kein einziger Punkt erfüllt. So sind die GUS-Staaten längst von einer einheitlichen Geldpolitik abgerückt, und selbst in der noch verbleibenden Rubelzone gibt es kein kozertiertes Konzept. Das russische Haushaltsdefizit wächst weiter an, die Haushaltszahlen sind zu optimistisch angesetzt. Die völlig überschuldeten Staatsbetriebe werden mit staatlichen Subventionen versorgt, die nicht einmal im geringsten die aufgetürmten Defizite begrenzen. Die Produktion bricht buchstäblich zusammen; die Privatisierung der Industrie, mit der die Regierung die leere Staatskasse füllen will, kommt nicht voran, die entsprechenden Verordnungen bleiben in der Mega-Bürokratie des Riesenreiches hängen. Die Notenpresse läuft weiter auf Hochtouren; ob sich der Rubel in in nächster Zeit überhaupt stabilisieren läßt, ist mehr als fraglich. Das Wirtschaftsprogramm des Regierungschefs und Chef-Reformers Jegor Gaidar, aus dem Lehrbuch der neoklassischen Marktwirtschaftler übernommen, ist längst Makulatur.

Selbst die offiziellen Gutachten der russischen Regierung prognostizieren nichts Gutes: Die Inflationsrate, die derzeit rund 20 Prozent im Monat beträgt, soll auf den in München kursierenden Angaben zufolge im zweiten Halbjahr auf 30 bis 35 Prozent klettern; die Energiepreise, für deren Freigabe sich der IWF eingesetzt hat, sollen sich um das 30- bis 35fache erhöhen. Eine ernsthafte Privatisierung, so die Prognose, sei so schnell nicht zu erwarten; die monopolisierte Industriestruktur werde sich kaum ändern. Und: Bis Ende des Jahres werden die Tauschgeschäfte auf 60 bis 70 Prozent des Umsatzes aller Betriebe anwachsen. Die Industrieproduktion schrumpfte 1991 um acht, in diesem Jahr bereits um rund 20 Prozent.

Die ökonomische Lage in Russland wird nicht zuletzt von dem Moskauer IWF-Vertreter Jean Foglizzo als sehr schrierig beurteilt. Auch die EG-Beobachter zeichnen ein verheerendes Bild: Nach ihrem im April erstellten Zahlenwerk sank das Bruttosozialprodukt in den Republiken im vergangenen Jahr um 12 bis 17 Prozent — Tendenz weiter fallend. Die Inflation betrug nach der Preisfreigabe zum Jahresbeginn 250 Prozent und dürfte sich bis Jahresende auf 100 Prozent einpendeln. Angesichts dieser Situation dürfte das makroökonomische Hilfspaket nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Gaidars Dreisprung, mit dem er den drohenden Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern und das Niveau zunächst auf das der übrigen osteuropäischen Länder anheben will, gleicht einem Drahtseilakt: ohne weitere Millardenhilfen und Investitionen aus dem Westen lassen sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht stabilisieren — für weitere Kapitalspritzen fehlen aber die Vorraussetzungen. Vielleicht ist das ganze Konzept falsch: eine Marktwirtschaft läßt sich nicht aus dem Boden stampfen. Erwin Single

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