: Ausstellung der Defekte
■ Die „Visionäre Schweiz“, Harald Szeemanns reisende Präsentation magischer Raritäten in der Kunsthalle Düsseldorf
Als hätte es Transit- Autobahn-Tunnel, Zivilschutz- Bunkeranlagen und ausufernde Chemiefabriken nie gegeben: Harald Szeemann besteht auf einem visionären Schweiz-Bild zwischen Bergpanorama und Heiligenkult, Irrsinn und Handwerk. Das kleine, durch Bergketten und sackgassige Täler eingeschnürte Viersprachenland fördere — verknappt man die Lesart des Tourneeleiters — Sektentum und Eigenbrödelei, Innerlichkeit und „Kompensierung zur Enge“. Am Ende der Welt angesiedelt, trüge der helvetische Sonderling besondere psychische Defekte mit sich herum. Diese schlügen sich in Form individueller Mythenbildung nieder. Jenes „Einzelgängertum“ bedeutet laut Katalogvorwort „Rückzug von der res publica, von der Gesellschaft. Die Belohnung für diese conditio humana ist eine eigene Theologie oder eben eine Vision, die Gabe des zweiten Gesichts, die nicht zu verwechseln ist mit der Utopie, der stets eine soziale gesellschaftliche Gesamtschau zugrunde liegt.“
Harald Szeemann stellt dem utopischen Deutschland seine „Visionäre Schweiz“ entgegen. Indem er die Leidensfähigkeit seiner Landsleute verherrlicht, denunziert er zugleich die Änderbarkeit der bestehenden Verhältnisse: Ausstellung statt Politisierung der Defekte, lautet die Devise. Während Szeemann die Utopien von Wagner, Malewitsch oder Beuys als Zukunftsmusik abserviert, propagiert er statt dessen die „a-historische Intensität“ der Mystiker. Seine vom Schweizer Staat geförderte Ausstellung zum 700jährigen Bestehen der Nation kann sich Kunst nur als „Rückzug von der Gesellschaft“ vorstellen. Doch während die meisten Schweizer Künstler wegen vorausgegangener Abhörskandale den 700-Jahr-Rummel boykottierten und so die offiziösen Feierlichkeiten beinahe zum Erliegen brachten, kommt für Szeemann solch ein „Rückzug“ nicht in Betracht.
In Zeiten marktorientierter Boheme-Kunst ist das Beharren auf marginalen und ungesicherten Positionen ehrenswert. Szeemanns hemdsärmelige Schau privater Vorlieben ignoriert allerdings ähnlich rigoros wie Jan Hoets „Documenta“ die Kunsttheorie und hangelt sich statt dessen von einer vermeintlichen Entdeckung zur anderen. Die bunte Mischung, ausgestreut über mehrere Etagen der Düsseldorfer Kunsthalle, ist von einer alle gattungsspezifischen Einkesselungsversuche souverän überschreitenden Vielfalt: Blauglühend-erhabene Bergmassive des Klassikers Ferdinand Hodler stehen den kitschigen Sonnenuntergangsgemälden eines Félix Vallerton gegenüber; drei strenge Klee-Bilder hängen direkt neben den surrealistischen Arbeiten von Meret Oppenheim; die strengen Abstraktionen eines Richard Paul Lohse seien so visionär wie Bruno Webers babyblau modelliertes Zuckerbäcker-Fantasialand.
Szeemanns Auswahl setzt an im 15. Jahrhundert — das Meditationsbild des Nikolaus von Flüe hängt in Faksimile am Ende des Treppenaufgangs —, hat ihren Schwerpunkt um 1900 und verliert sich wenig überzeugend mit Arbeiten von Vautier, Toroni, Raetz oder Dissler in der Gegenwart. Einen ganzen Raum der insgesamt 60 Künstler umfassenden Ausstellung reserviert Szeemann für Adolf Wölflis manische Bleistiftornamente, die er als Psychiatrieinsasse angefertigt hatte. Ein weiterer Klassiker der Art brut ist der Fingermaler Louis Soutter; weniger bekannt hingegen die naiven Papierarbeiten von Aloise Corbaz oder Esther Altorfers kryptische Schriftzeichen. Zum wiederholten Male wird hier das Hohelied der Irren angestimmt: Therapie mit Kunst statt Widerspruch, Isolation statt Öffnung, Mitleid der „Normalen“ statt Aufstand der Defekten. Die „Individuellen Mythologien“ sind sein Programm.
Der Ausstellungsmacher — profiliert durch: „Junggesellenmaschinen“, „Hang zum Gesamtkunstwerk“, „When Attitude Becomes Form“, „Zeitlos“ — propagiert seit Jahrzehnten den gesellschaftlichen und kunstgeschichtlichen Außenseiter; unterstützt von seinen Helfern, der „Agentur für geistige Gastarbeit“. Breite Aufmerksamkeit erfahren deshalb auch okkulte Pendler — Werner Hertig entdeckte nicht nur Wasseradern, sondern erstellte auch Buntstift-Rosetten, während Emma Kunz auf diese Weise die Schwerpunkte für ihre achsensymmetrischen Vieleckzeichnungen fand; man findet auch Beispiele figurativ malender Steiner-Jünger, Felshöhlen sprengende Baumeister — und Gestalter von Briefmarken.
Nur selten trifft man auf Arbeiten, die über das exotisch Besondere hinaus eine andere — visionäre — Erfahrung vermitteln können. In einem abgetrennten Raum mit auf dem Boden ausgestreutem, kräftig duftendem Laub rekonstruiert Szeemann den Schilder-Wald von Armand Schultheiss. Der damals 50jährige Aussteiger gab seine Stelle im Bundesdienst auf und errichtete als Einsiedler im Tessin eine „Enzyklopädie des Waldes“. Sie setzt sich aus beschrifteten Blechtafeln, Flaschen und Drahtgebilden zusammen, die an Bäumen und Zäunen hängen und sein über Jahre angesammeltes, weitverzweigtes Wissen darstellen. Der Welt abhanden gekommen, errichtete er sich eine semiwissenschaftlich neue. Ebenfalls abgeschottet von der Außenwelt, entwickelte Annemarie von Matt fast zeitgleich die letzten 15 Jahre ihres Lebens (neben plastischen, aus mehreren beschrifteten Papierlagen geformten Zeichnungen) auch äußerst merkwürdige Assemblagen. Wie in einer Asservatenkammer sind in Düsseldorf ihre kombinierten Ready-mades, die Kultgegenstände aus Wurzelholz und schmuckartiger Zierrat aufbewahrt. Die in der Mitte unseres Jahrhunderts entstandenen Objekte bilden eine eigenwillige Brücke zwischen bäuerlicher Spiritualkunst und dem Magischen außereuropäischer Kultgemeinden. Hier ahnt man, was das Visionäre — laut Theo Kneubühlers Katalogbeitrag verbergen sich darin „nichtfundierte Erkenntnis- und Denkformen“ — auszeichnet.
Szeemann sucht das irgendwie Andere, nicht jedoch das bestimmt Eigensinnige: Seine „Visionäre Schweiz“ ist weit entfernt von der widerborstig-vergnügten Heimat eines Asterix und Obelix. Die Ausstellung feiert die individuellen Weltentwürfe, solange sie nicht ins wirkliche Geschehen eingreifen. Statt Henri Dunant als maßgeblichen Wegbereiter des Roten Kreuzes, der UNO und der Unesco zu würdigen, stellt Szeemann dessen „Symbolische, chronologische Diagramme einiger Prophezeiungen der Heiligen Schrift“ aus. Diese in ihrer frommen Welterklärung weit hinter der Bedeutung seiner sozialpolitischen Entwürfe stehenden Exponate passen vorzüglich in Szeemanns Schau des Apolitischen. So auch Max Daetwyhler, dessen weiße Fahne gleich neben Dunants Arbeiten von der Wand herabhängt. Der wurzelseppige Kauz reiste in der Welt herum und wollte — weitgehend ohne Erfolg — Hitler und Chruschtschow, De Gaulle, Kennedy und Castro seine wirre Botschaft vom Frieden auf Erden ganz persönlich verkünden. „Heute weht die weiße Fahne auf dem Roten Platz. Wir werden sehen, welche Fahne mächtiger ist“, schrieb er 1964. Welch ein Visionär! Jochen Becker
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