: Der Fisch stinkt nicht nur am Kopf-betr.: "Das Weizsäcker-Syndrom" (Politikverdrossenheit als Volkssport) von Reinahrd Mohr, taz vom 4.7.92
betr.: „Das Weizsäcker-Syndrom“ (Politikverdrossenheit als Volksport) von Reinhard Mohr, taz vom 4.7.92
[...] Im Trubel der PolitikerInnen- und Parteienschelte scheint mir doch etwas sehr Wichtiges unterzugehen — die Kritik an den BürgerInnen des Staates, sozusagen am „Volk“. [...] Schon Rosa Luxemburg wußte, daß Demokratie immer ein Balanceakt ist, zwischen dem Willen der Mehrheit und den Rechten einer Minderheit, die ihnen von dieser gewährt werden (berühmte Parole der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR).
Meine Beobachtung ist (war), daß mit zunehmendem Wohlstand einer Bevölkerungsmehrheit, die aktive Demokratiegestaltung abnimmt, das heißt daß demokratische Instrumente (Parlamente, Parteien, Recht) in einem sich gegenseitig induzierenden Prozeß nur noch die Meinungen der Mehrheit repräsentieren. Die Rechte der Minderheit werden, unter dem Einwand, daß dieser Prozeß demokratisch sei, ganz oder teilweise ausgegrenzt oder beschnitten. Mit diesem (stillschweigenden) Konsens zwischen Politik und Bevölkerungsmehrheit, ist es zu dem politisch-gesellschaftlichen Zustand gekommen, den wir heute vorfinden.
Welcher ernsthaft denkende Mensch will heute noch bestreiten, daß sich Gesetzgebung und Rechtsprechung auf diese (vorgeblich) demokratische Mehrheit auswirkt? Die Folgen dieser Mißdeutungen, die schließlich zum Mißbrauch führt, sehen wir heute ganz deutlich. Es sind nicht nur die Parteienfinanzen, die durch allerlei Paragraphen und Verordnungen kaschiert, Aufforderung zu Subventionsbetrug, Steuerhinterziehung oder Vorteilsnahme aller Art sind, sondern auch ganz existenzielle Dinge wie Gesundheit und Wohnen betroffen. Die Urteile des BVG oder BGH sind doch nicht vom Himmel gefallen. Sie sind Ergebnis eines langen Prozesses (auch in den Köpfen von RichterInnen), daß demokratisch und rechtens sei, was von der Mehrheit abgesegnet ist (wird). [...]
Die Politikverdrossenheit, die wahrscheinlich ohne Vereinigung auch, nur später, gekommen wäre, ist nach meiner Ansicht ein tüchtiges Stück Selbstverdrossenheit und das Erkennen der eigenen Fehler und Versäumnisse. Anstatt aber selbstkritisch auf die eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen zu blicken, schlägt man auf „die da oben“ ein.
Wer Demokratie so versteht, daß mit den Wahlen und der Regierungsbildung alles gelaufen sei, der/die hat entweder Demokratie nicht begriffen oder hält nichts von ihr. Daran ändert auch leider das Engagement der Menschenrechts-, Friedens-, Frauen- oder Ökologiebewegung nichts. Es ist ein deutliches Demokratiedefizit zu erkennen. Insofern sehe ich durchaus Parallelen zu Weimar. Erst in Krisenzeiten [...] zeigt sich, wie tief die demokratischen Wurzeln tatsächlich sind. Der schlimmste Feind der Demokratie ist der Luxus — er macht träge, denkfaul und intolerant. Meine Zweifel an dieser Demokratie bestehen nicht erst seit der Vereinigung. Doch wenn ein Kanzler unwidersprochen den einen Teil seines Volkes als Pöbel bezeichnen kann, sagt das mehr über den Zustand des anderen Teils aus, als noch so gründliche Meinungsumfragen.
Daß und wie Demokratie funktionieren kann, hat der zähe Kampf der Frauen um den Paragraphen 218 gezeigt. Der euphorische Augenblick nach dem Mauerfall hätte einen Prozeß der gesamtdeutschen Demokratisierung einleiten können.
Doch was die Menschen im Osten nicht wahrgenommen hatten oder schlicht nicht wußten, den schleichenden Demokratieverfall und das Desinteresse des Bürgers am eigenen Staat, hat diese Chance ungenutzt vorübergehen lassen. Es hat nicht einmal einen Aufbruchversuch (wie 67-72) gegeben. Und das sehe ich als eigentliche Schande an. Der Fisch Deutschland stinkt eben nicht nur am Kopf. [...] Renate Helling, Ost-Berlin
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