: Die Raucher-Epidemie tötet Millionen
■ Erstmals liegt eine Mortalitätsstudie zur Tabakdroge für alle Industrienationen vor/ Kohorte von 1 Million Freiwilligen liefert schockierende Zahlen/ Der britische Epidemiologe Richard Peto erwartet in diesem Jahrzehnt 21 Millionen Rauchertote
Die alljährliche Meldung der „Drogentoten“ gehört zu den perfektesten Verdrängungsleistungen unserer Gesellschaft. Die beiden wichtigsten Drogen, Alkohol und Tabak, werden in den amtlichen Bilanzen regelmäßig unterschlagen.
Während jedes Heroinopfer auf der Bahnhofstoilette eine Meldung wert ist, gehen die jährlich 111.000 deutschen Opfer des Zigarettenrauchens in anonymen Sterbe- und Krebsstatistiken unter. Eine neue, groß angelegte Studie über „Mortalität durch Tabak in Industrienationen“ von Richard Peto und seinen Mitarbeitern rückt den Tod durch Tabak jetzt in den Blickpunkt und nennt Zahlen über die Frühsterblichkeit durch Rauchen, die in ihrem Ausmaß alle anderen Todesursachen in den Schatten stellen.
Nach Petos Abschätzung werden in den 90er Jahren in den Industrienationen weltweit 21 Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums sterben, das entspricht etwa der Bevölkerung Kanadas. Damit stirbt in den Industrienationen jeder fünfte Mensch vorzeitig an den Folgen des Rauchens. Das Leben dieser Tabakopfer wird im Schnitt um 15 Jahre verkürzt.
Der Brite Richard Peto ist einer der bekanntesten europäischen Epidemiologen. In den letzten Jahren hat er wiederholt die Risiken des Rauchens untersucht. Seine neueste Studie (Lancet 8804/Mai 1992) könnte zu einem medizinischen Markstein in der Erforschung der Tabakdroge werden.
Galoppierende Zahlen bei Tabakopfern
Mit dieser Arbeit liegt erstmals eine Abschätzung der Frühsterblichkeit durch Tabak für alle Industrienationen vor. Zugleich können die Todesfälle in ihrer Entwicklung von den 60er Jahren bis heute betrachtet werden. Die Tendenz ist steigend: In den 60er Jahren starben in den Industrienationen 9 Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens, in den 70ern 13 Millionen, in den 80ern 17 Millionen, in diesem Jahrzehnt werden es 21 Millionen sein, im nächsten schon 25 Millionen. Mit dem Bevölkerungswachstum alleine läßt sich dieser kräftige Anstieg nicht erklären. Der zunehmende Tabakkonsum von immer größeren Bevölkerungsanteilen schlägt sich hier deutlich nieder. Die gesundheitlichen Defekte treten dabei mit zeitlicher Verzögerung von 10, 20 oder 30 Jahren auf. In einigen Staaten, wie in den USA, ist es inzwischen zwar zu einem Rückgang der Raucherzahlen gekommen, doch in anderen Nationen nimmt vor allem die Zahl der rauchenden Frauen und Mädchen dramatisch zu. In den osteuropäischen Ländern steigen die Raucherzahlen sowohl bei Männern wie bei den Frauen.
Wie kommt Peto zu seinen Zahlen? Der britische Wissenschaftler hat zunächst die Daten der großen amerikanischen Krebsstudie ausgewertet. Im Rahmen dieser Studie waren in Jahr 1982 in den USA mehr als eine Million (!) Freiwillige erfaßt worden. Sie wurden aufgeteilt in Raucher und Nichtraucher sowie nach Geschlecht und Alter registriert. (Eine ähnliche Studie lief schon in den 60er Jahren in den USA.) In den folgenden Jahren wurde dann die Sterblichkeitsrate der Raucher- und Nichtrauchergruppe verglichen. Heute, zehn Jahre nach Beginn dieser „Prospektivstudie“, sind die Daten für die ersten sechs Jahre seit Studienbeginn ausgewertet.
Für die Verhältnisse in den USA läßt sich aus diesem Material die Frühsterblichkeit in der Gruppe der Raucher sehr exakt herauslesen. So war deren Todesrate in allen Altersstufen von 35 bis 70 Jahren mindestens doppelt so hoch wie in der Gruppe der Nichtraucher.
Auch über die Todesursache durch jeweils spezifische Krankheiten können bei Rauchern und Nichtrauchern Aussagen getroffen werden. Beispiel Lungenkrebs: Unter 100.000 Rauchern starben im Jahr 1985 in den USA 460 Personen an Lungenkrebs, unter 100.000 Nichtrauchern waren es nur 24 Personen. Lungenkrebs ist die bekannteste Raucherkrankheit, aber nicht die einzige.
Auch an anderen Tumoren, an Atemwegs-, Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen sterben unter Nikotinabhängigen weit mehr Menschen als unter Nichtrauchern. Auf jeden Todesfall durch Lungenkrebs kommen drei weitere Todesfälle durch „andere“ Krankheiten. Insgesamt starben in den USA im Jahr 1985 nicht weniger als 408.000 Menschen an den Folgen ihrer Nikotinabhängigkeit.
Während für die USA also sehr exakte Zahlen zum Raucherrisiko vorliegen, fehlen sie für die meisten anderen Staaten. Um von den amerikanischen Zahlen auf die anderen Industrienationen umzurechnen, wendet Peto einen Kunstgriff an. Er nimmt die — in allen Ländern statistisch erfaßte — Lungenkrebs-Rate eines jeweiligen Landes und berechnet anhand der Daten aus der amerikanischen Studie, die zu einer bestimmten Lungenkrebsrate gehörende Rate von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und so weiter. Seine Logik: Bei einer sehr hohen Lungenkrebsrate werden auch die übrigen Raucherkrankheiten sehr stark verbreitet sein und umgekehrt: Je weniger Lungenkrebsfälle, desto weniger Raucherbeine, Asthmafälle et cetera. Das Verhältnis von Lungenkrebs zu den anderen Raucherkrankheiten entnimmt er den US-Zahlen.
Diese Methode ist nicht sehr präzise, aber plausibel. Peto selbst spricht mehrfach von crude methods, also von groben Abschätzungen. Er hält sie dennoch für zulässig, weil für die meisten Länder keine eigenen Mortalitätsstudien zum Rauchen vorliegen. Um das Raucherrisiko nicht zu überschätzen, rechnet Peto „konservativ“, das heißt, er bewegt sich mit seinen Abschätzungen konsequent am unteren Ende.
Für alle Industrienationen zusammen kommt er so zu einer gegenwärtigen jährlichen tabakverursachten Todesrate von zwei Millionen Menschen. Seine Prognose für die Zukunft: „Ungefähr ein Fünftel der Menschen, die gegenwärtig in den Industrieländern leben, werden möglicherweise durch den Tabak sterben — zirka eine viertel Milliarde.“
Bei den Krebserkrankungen ist nach Petos Berechnungen jeder dritte Krebstote ein Opfer der Zigarette. Die Erfolge in der Krebsbekämpfung seien durch die seit den 60er Jahren ansteigende Zahl von Tabak-Krebstoten verwischt worden. Wo man abnehmende Zahlen erhofft hatte, seien durch die wachsende Zahl von Rauchern steigende Ziffern zu verzeichnen.
Besonders dramatisch beschreibt der britische Epidemiologe die Situation bei den Frauen. In mehreren Ländern sei zu beobachten, daß parallel zur wachsenden Zahl von Raucherinnen die Lungenkrebsrate bei den Frauen „rapide ansteigt“. Gegenwärtig ist das Verhältnis von Männern zu Frauen unter den Tabaktoten noch etwa 3:1.
Wenn der gegenwärtige Trend anhält, könnte sich der Anteil der beiden Geschlechter an der Tabakmortalität nach Petos Einschätzung schon in den nächsten beiden Jahrzehnten angleichen. „Spitzenreiter“ in der Negativstatistik bei den Frauen sind die USA. Unter den bis 1995 erwarteten 590.000 amerikanischen Lungenkrebsopfern durch Tabak werden bereits 240.000 Frauen sein.
Auffallend an den Statistiken ist die hohe Sterblichkeitsrate in den osteuropäischen Ländern. In Polen etwa wird jeder vierte männliche Erwachsene vor Erreichen des 70. Lebensjahres an den Folgen des Rauchens sterben. Ko-Faktoren für die in Osteuropa besonders ausgeprägte Rauchermortalität sind die starke Luftverschmutzung und die schlechtere medizinische Versorgung.
Zigaretten offensiv — Kondome klammheimlich
Eberhard Greiser, Leiter des Bremer Instituts für Sozialmedizin und Prävention, bezeichnete die Peto-Studie als „seriöse und wichtige Arbeit“. Aus den erschreckenden Zahlen müßten endlich gesundheitspolitische Konsequenzen gezogen werden. Es gehe nicht an, daß in Bonn weiterhin das Wirtschaftsministerium die Gesundheitspolitik mache, und die Zigarettenlobby ihre Interessen durchsetze. Greiser verwies auf den bundesdeutschen Trend, der wegen der starken Zunahme der Raucherinnen „außerordentlich beunruhigend“ sei. Unter den Frauen habe die Sterberate an Bronchialerkrankungen im Zeitraum von 1980 bis 1989 gegenüber 1970 bis 1979 bundesweit um 27,9 Prozent zugenommen, bei den Männern um 2,7 Prozent. Unter den 25- bis 30jährigen hätten die Frauen die Männer im Zigarettenkonsum bereits überholt.
Ulrich Keil, Leiter des Bochumer Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie, kritisierte angesichts der alarmierenden Zahlen in Petos Studie die Ignoranz von Politik und Medizin gegenüber der Rauchermortalität. Die Medizin fahnde nach allen möglichen Krankheitsursachen und kümmere sich kaum um das Rauchen.
Während die EG 15 Millionen Mark in ihr Programm „Europa gegen Krebs“ investiere, subventioniere sie zur selben Zeit mit der hundertfachen Summe von 1,5 Milliarden Mark den Tabakanbau in den europäischen Ländern. Und während „das Zigarettengift an jeder Hausecke auch für Kinder leicht erreichbar ist, werden Kondome für die Aids-Prävention noch immer unter der Ladentheke gehandelt“.
Keil wies auf eine Untersuchung in Süddeutschland hin, wo die Rauchergewohnheiten alle fünf Jahre stichprobenartig erfaßt werden. Die neusteste Abschätzung für 1990: Bei den Männern rauchten 32 Prozent (gegenüber 36 Prozent 1985), bei den Frauen waren es 23 Prozent (1985: 19 Prozent). Manfred Kriener
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