Die Cocktailbar im 36. Stock

■ Urlaub in Berlin: Wo der hektische Großstadtmensch zeitgemäß Ruhe und Entspannung findet

Wozu soll ein echter Großstadtneurotiker in die Ferne schweifen? Auf's Land, vom Hofhund verbellt, von Stechmücken zerbissen und zwischen Misthaufen schlafend? An's Meer, wo das Ozonloch dräut und der Sand in der Unterwäsche piekt? In's Gebirge, wo Steinschläge und Lawinen niederprasseln und wütende Stiere unschuldige Urlauberinnen schwängern? Nein, wer im Trend sein will, macht Ferien in der Großstadt, genauer: In seiner Großstadt. Da kann man endlich einmal alles auskosten, was man nur aus der Zeitung und aus Touristenbroschüren kannte. Zudem ist die Unterbringung preiswert, der Urlaub daheim verursacht keinen umweltzerstörenden Verkehr und einen schöneren Ort als Berlin gibt es ohnehin nicht.

Nun verstehen faule Zeitgenossen unter »Urlaub in Berlin«, den ganzen Tag faul auf dem Balkon oder dem Dach der fünfstöckigen Mietskaserne zu liegen, von wo aus man Pizza und Tortellini per Boten ordert, fordernde Zeitgenossen mit dem Anrufbeantworter abspeist und abends die Doppelkopfrunde zu Besuch kommen läßt, während der kleine Bruder zur 24-Stunden- Tankstelle geschickt wird, um Sekt zu holen.

Der echte Großstadtfreak jedoch nutzt die Stadt umsonst und draußen. In vorderster Reihe zu empfehlen sind, angesichts des nicht enden wollenden Sommers, die Freiluftbühnen und Freilichtkinos. Nicht nur die altbekannten Spielorte wie die Waldbühne und das Kino in der Hasenheide stehen seit dem Mauerfall zur Auswahl, auch im Volkspark Friedrichshain, in Weißensee und in der Wuhlheide darf man die Nackte Kanone 2-1/2 oder die Doors auf der Großleinwand sehen.

Ebenfalls draußen und teilweise sogar umsonst sind viele klassische Konzerte, die seit einigen Jahren nicht nur in den diesbezüglichen hehren Hallen stattfinden, sondern in freizeitgemäßer Umgebung, zu der Picknickkorb und Grillrost gehören. Genannt seien hier nur die regelmäßigen Wochenendveranstaltungen im Tiergarten an der Schleuse, die Konzerte bei Schultheiss am Kreuzberg oder aber das — oft frühzeitig ausgebuchte — Kloster Chorin (nicht vergessen: das Schiffshebewerk in Niederfinow!).

Weniger klassikbeflissene Menschen können sich solange bei den »Heimatklängen« im Tempodrom amüsieren, auf Straßenfesten — demnächst steht das Chamissofest an — im Kulturpark Plänterwald, im Jugendfreizeitzentrum in der Wuhlheide mit seiner wunderbaren Babybahn oder auf der »Insel der Jugend« im Treptower Park.

Etwas weiter weg, aber für einen Tagesausflug geeignet ist das Museumsdorf Düppel — von wo aus sich mit dem Fahrrad ein Abstecher nach Potsdam an der Havel und Kohlhasenbrück machen läßt —, die Pfaueninsel und der Schloßpark Glienicke. Weniger bekannt ist die Bötchenfahrt zur Woltersdorfer Schleuse, die in einen Besuch der dortigen »Liebesquelle« gipfeln sollte. Zurück kann es mit der Uralt- Straßenbahn durch den Wald nach Erkner gehen, solange es die noch gibt.

Empfehlenswert ist heute wieder das Baden in West-Berlin. Denn an Havel, Flughafensee, Teufelssee und selbst im hochgradig infrastrukturierten Strandbad Wannsee ist es überraschend leer. Der Grund: Alle Leute sind im Osten, die vermeintlich unberührten Seen erobernd. Am Wannsee kann man darüberhinaus noch Strandkörbe und Bötchen zum Selberrudern mieten.

Etwas großstadtgemäßer ist die Suche nach hohen Häusern zum Heruntergucken, von denen Berlin keinen Mangel hat. Der unschlagbare Fernsehturm am Alex wäre da als erstes zu nennen, der freilich Eintritt kostet und Schlangestehen erfordert. Das gilt auch für das Europacenter am Breitscheidtplatz. Umsonst hingegen ist das AEG-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz mit seinem Fahrstuhl in den 20. Stock. Weiter außerhalb liegen der — zu Fuß zu besteigende — Müggelturm in den Müggelbergen und der Grunewaldturm an der Havel. Ein echter Geheimtip ist die Cocktailbar im 36. Stock des Hotels Stadt Berlin. So muß sich die SED West-Niveau vorgestellt haben.

Überhaupt: die »DDR«. Vom Checkpoint Charly auf der ehemaligen Grenzlinie hinter dem Reichstag entlang und an den herumlungernden russischen Emblem- und Uniformverkäufern und am Humboldthafen vorbei, hinter der Charité durch, einen Blick auf den Invalidenfriedhof werfend und unter den Metallsäulen des Gleimtunnels hindurch sieht man immer noch Spuren der Mauer und den Bruch im Stadtbild. Hier empfiehlt sich das Fahrrad.

Das Rad kann man übrigens auch in die S-Bahn mitnehmen, die inzwischen von West-Berlin aus Oranienburg anfährt oder — per Ferkel-Taxe — Nauen und Wandlitz. Aber der echte Großstadtmensch plant ohnehin nicht: Er wirft einen Blick auf den Stadtplan, sucht sein Ziel und fährt ins Blaue. Etwas Neues findet man allemal. Eva Schweitzer