: Die Meuterei der Königskinder
■ 540 Großmeisterinnen und Großmeister von morgen zogen und schlugen bei der Jugendschach-WM
Duisburg (taz) — Die schwarze Dame ist als Domina gewandet. Nachdem das Spiel entwickelt ist, stolziert sie mit der Peitsche streng einher. Gnadenlos erhebt sie ihre Hand gegen sie bestürmende weiße Leichtfiguren. Diese opfern sich heroisch im Laufschritt oder im Galopp. Gefällig betrachtet der schwarze König das Geschehen von seinem Thron aus, sein Bauernheer scheint ihn sicher abzuschirmen. Doch die konkurrierende Dame, es ist Marilyn Monroe, bricht sich Bahn. Schach! Die weiße Frau trällert nunmehr ein Liedchen, der König ist gelähmt. Das Lied ist aus, matt, der König ist gefallen.
Schon während dieser getanzten Eröffnungspartie mutiert der Saal der Mercator-Halle in Duisburg zum melting pot im eigentlichen Sinne. Oh, diese Hitze! Wie halten die 540 Meisterinnen und Großmeister von morgen, die sich zur Jugendschach-WM hier eingefunden haben, das nur auf die Dauer aus? Insgesamt elfmal verbringen sie, die sechs bis 18 Lenze zählen, einen langen Nachmittag am Brett. Und den Vormittag dazu, falls es einmal hängen sollte. Gibt es einen bizarren Nadja-Comaneci-Zauber für Kopfakrobaten, der sie alle in den Bann genommen hat? Der Schinder dieser Zeilen, der in juvenilen Jahren nur ein Turndiplom erwarb, weiß keine Antwort.
Experte Helmut Pfleger, von WDR bis 'Funkuhr‘ allgegenwärtiger Promoter des königlichen Spiels, hat dagegen sogar eine Theorie. Attraktiv sei das Figurengeschiebe für die lieben Kleinen, weil damit allerlei Familienkonflikte ausgelebt werden könnten. Der König sei der Vati, die Dame sei die Mutti. Nur, wenn das so ist, ist der Vernichtungsfeldzug familiärer Alltag. Und warum kloppt Mutti immer auf den anderen Vati, den sieben Felder weiter, ein? Dieser entscheidenden Frage hat sich einst Kokain-Siggi aus Wien etwas umfassender angenommen. Ihm zufolge muß Vati getötet werden, weil der Gewinner die Mutti ganz für sich allein will. Bieten Sie diese Erklärungsvariante einfach einer sechsjährigen Marokkanerin an, nachdem Sie in zweimal fünf Minuten blitzschnell gegen sie verloren haben!
Auch die als Genies gehandelten Untersuchungsobjekte können zur tiefenpsychologischen Aufhellung ihrer Motive wenig beitragen. Vom zwölfjährigen Ungarn Peter Leko ist die Äußerung überliefert, er sei sich sicher, im Jahr 2000 Weltmeister zu sein. Er gilt als hoffnungsvolles Talent, vor kurzem gelangte er früher als Weltmeister Kasparow zu internationalen Meisterehren. Schach zu spielen lernte Peter Leko vor sechs Jahren, nachdem er in Jugoslawien am Strand alte Männer spielen sah. Da war er sofort hin und weg. Jetzt trainiert er täglich sechs Stunden und verrichtet auch so profane Dinge wie die Schule. Damit die Geistesblitze über seinem Brett im Rudel zucken, ernährt er sich in der kiddy-adäquaten Form des straight edge: keine Limo, keine Hamburger, keine Schokolade. Der Ernst des Denkens verlangt viel Schweiß und Arbeit.
Bewußtseinsvegetarier Leko brachte sein Bemühen aber nur den vierten Platz in der Altersgruppe der Jungs unter 14. Selbst bei den Stars unter den Kids schwanken die Leistungen eben noch um etwas größere Amplituden. Auch ist die Weltfremdheit der jungen Menschen noch nicht ganz so schachfixiert ausgeprägt. Die Königskinder spielen gerne noch mit anderem Spielzeug. Der durchschnittliche Bundesliga- Spieler dagegen ist, krass gesagt, oft die tragischere Figur: langjähriger Träger eines Pullunders unter braunem Parka, chronisch klamm und manisch spielbesessen. Bekanntlich verlief das Spiel des Lebens für den weltmeisterlichen Innovator Bobby Fischer Zug um Zug ins Ungewisse, im Endstadium kann einen das Spiel lebensmatt machen. Und ob für die beiden Polgar-Schwestern, vom ehrgeizigen Vater, basierend auf Skinners Lerntheorie und Montessoris Pädagogik, zum jugendlichen Genie gedrillt, das organisierte Monotalent beglückend wird, bleibt abzuwarten.
Die Talentförderung im Deutschen Schachbund hat jedenfalls mehr Freiwilligkeit zur Voraussetzung. Die besten acht aus 60 auf Lehrgängen herausgefilterten Jugendlichen, die dann von Großmeister Michail Botwinnik intensiv gedrillt werden, müssen das ausdrücklich wollen. Thomas Meiser
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen