: Flaschenpost der Shoah
■ Wiederentdeckt: Katzenelsons „Lied vom letzten Juden“
Bevor am 19.April 1943 im Warschauer Ghetto der Aufstand begann, schmuggelten die jungen jüdischen Widerstandskämpfer noch einen Mann auf die „arische Seite“: den Dichter Jizchak Katzenelson wollten sie als Zeugen für die Nachwelt retten. Katzenelson überlebte nicht; Anfang 1944 wurde auch er in einen Viehwagen gepreßt, der nach Auschwitz fuhr. Aber in dem einen Jahr, das ihm blieb, erfüllte er seinen Auftrag. Er schrieb „Das Lied vom letzten Juden“, ein unmittelbares Zeugnis der Shoah. Er brachte die jüdische Erfahrung dieser Jahre ins Wort, die Erfahrung allgegenwärtiger Vernichtung, angefangen von dem Augenblick, als die Deutschen im polnischen Radio die ersten Anweisungen erteilten, über die Flucht ohne Ausweg, die Verfolgung, die Qualen im Ghetto, die Folter, die Deportation, die Morde, die Frevel, das Wissen um die Gasöfen:
„Weh mir, ich wußte es. Nur ich? Durch Wolken pfiff der Tod — wie grell! Wie schrill! Und alle wußten alles. Selbst das Kind. Der Greis. Wer hat von nichts gewußt? Um uns die Christen wußten es: Das Volk, das jüdische, wird umgebracht.“
So schrieb Jizchak Katzenelson im November 1943. Man hatte ihn mit einem honduranischen Schutzpaß ausgestattet, der verschaffte ihm sechs Monate im südfranzösischen Vorzugslager Vittel — dort brachte er die 15 jiddischen Gesänge zu Papier, die bleiben sollten, wenn, wie er annehmen mußte, sonst nichts mehr bleiben würde vom jüdischen Volk. In Flaschen steckte er den Text und vergrub ihn, eine Mitgefangene wußte davon und da sie überlebte, sorgte sie dafür, daß er gefunden und veröffentlicht wurde.
Die israelische Regierung bat Hermann Adler, der auch aus den Todeslagern kam, die Gesänge ins Deutsche zu übertragen. Adler, selber ein Dichter, vermochte das in kongenialer Weise. 1951 erschien „Das Lied vom letzten Juden“ im Züricher Verlag Oprecht.
Jetzt ist das „Lied vom letzten Juden“ in einer schönen jiddisch-deutschen Ausgabe mit einem aufschlußreichen Essay von Hermann Adler wieder erschienen. Kein Buch, das ich über die Shoah gelesen habe, kein Film, kein Gedicht haben mich so angerührt wie dies. Keine Leseerfahrung, die ich dieser vergleichen könnte. Gebannt hat mich Zeile um Zeile seiner Dichtung, die trotz ihrer grauenhaften Nachricht große Musik ist.
Katzenelson klagt, singt, dichtet für die Verstummten, er ist mitgestorben mit seinem Volk, mit seiner Frau, seinen Söhnen, seinen Freunden: „Wie soll ich singen? singen, weil ich lebe? Weh mir! Aus totem Mund, hörst du, tönt Klage. Wenn ich schweige, hallt der Schrei Verstummter.“
Ein unvergeßliches Lied widmete er Korcaks Waisenkindern, ein anderes dem Ältesten des Ghettorats, der in die Deportation einwilligen mußte, und sich umbrachte, als er unterschreiben sollte, daß es Tag für Tag statt 5.000 von nun an 10.000 Juden sein sollten.
Er setzt dem Rabbi Jossele ein Denkmal, der als grausam Gedemütigter standhielt, aber auch den Jungen, die den Aufstand wagten: „Das hat der Deutsche nicht gewußt. Wahrhaftig — Juden schießen! ... Weh uns. Wir können, ja, wir können uns entgegenstellen. Und auch töten können wir. Wir auch. Wir können aber auch, was ihr nicht können wollt, nicht können werdet, eurem Wesen nach nicht können dürft: Nicht unsern Nächsten töten...“
Katzenelson meißelt diese scharfen Bilder ins Herz, auf die allein es ankommt, wenn wir das Erinnern ernst meinen. Er erzählt, was seine Augen gesehen haben, und muß dabei, der fromme Jude, zum Himmel schreien. Wieder und wieder fragt er nach Gott: „Kennt Gott die Milagasse? Was geschieht, wenn Gott sie kennt? Schläft Gott so fern, daß Gott nicht hört? Schlecht ist es in der Milagasse, ohne Gott. Wie wär es, wenn Gott lebte? Zweifach schlecht ... Schämt, Juden, euch: Den Christen habt ihr Gott verkündet. Welch ein Unrecht.“
Die „Getauften“ sind es, die Schrecken und Vernichtung bringen. Aber Jesus ist im Ghetto nah, viel näher als Gott: „Sahst du den Sohn von Nazareth? Er ging mit unserm Volk, das in die Milagasse zog. Nicht trug er seine Dornenkrone, nicht sein Kreuz. So ging er, wie sein Volk, das leidend schweigt. Geduldig blieb er in der Todesreihe. Vor ihm stand ein Deutscher, der die Opfer wog, auf einer deutschen Waage. Und der Nazarener war zu leicht. Doch blieb er ungebeugt.“
Katzenelson weiß, die Shoah hat mit dem Christentum ursächlich zu tun, er weiß: Es geht hier um die Kreuzigung des jüdischen Volkes, denn „ein Jude, der am Kreuz sie heilt, ist ihnen nicht genug“.
Die Zeilen, die Hermann Adler der Dichtung hinzugefügt hat, entstanden am 5.Mai 1945: „Wenn viele Hoffnungen auch längst zerschellten, der Morgen graut. Die Totenfelder keimen. Der Himmel lacht. Der Untergang von Träumen bedeutet nicht den Untergang von Welten. Noch sprudeln Quellen, Lebende zu laben, und Blüten sonnen sich im Frühlingslichte. Es wurde nur ein kleines Stück Geschichte, die älter war als Gottes Bild, begraben...“ Angelika Obert
Jizchak Katzenelson: „Das Lied vom letzten Juden“. In der Nachdichtung von Hermann Adler, edition Hentrich, cirka 200Seiten, cirka 29.80DM.
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