KOMMENTAR: Eine reelle Chance
■ Die US-Demokraten stehen mit dem Rücken zur Wand: Wahlsieg oder Ende. Mit ihrem Kandidaten Bill Clinton orientieren sie sich nun mehr an der gesellschaftlichen Mitte
It's Clinton time. Zumindest für die nächsten 48 Stunden. Dann haben die Putztrupps die letzten Wahlkampfschilder und Colabecher aus dem Madison Square Garden gefegt, und die Pro-Clinton-Kurve bei den Meinungsumfragen wird sich wieder bei Normalmaß einpendeln — knapp vor oder hinter George Bush, und sicherlich vor Ross Perot, dessen Kampagne erste Risse zeigt.
Vorschnelle Siegesgewißheit kann sich im Clinton-Team keiner leisten, dazu ist die Erinnerung an 1988 noch zu frisch. Nach dem demokratischen Parteitag vor vier Jahren lag Präsidentschaftskandidat Michael Dukakis bei den Demoskopen ebenfalls deutlich vor George Bush. Es folgte eine vernichtende Niederlage für die Demokraten — die dritte in Folge. Und so manche fragen sich, ob die Partei nach der vierten überhaupt noch eine Existenzberechtigung hätte.
Allerdings hat Bill Clinton aus den Desastern seiner Vorgänger gelernt und sich für seinen Wahlkampf jene Zielgruppen ausgesucht, die den Demokraten schon seit langem das Leben schwermachen: die weißen Südstaatler und die Mittelklasse in den Vorstädten. Erstere reagieren nach wie vor empfindlich bis feindselig auf traditionelle Prinzipien der Demokraten: Bürgerrechte und Gleichberechtigung für Schwarze und andere Minderheiten; letztere hat sich von einer städtischen in eine vorstädtische Bevölkerungsgruppe verwandelt: Menschen, die sich mit ihrem relativen Wohlstand den Weg in die Eigenheimsiedlung mit privater Polizei, sauber geschnittenem Rasen und privaten Schulen erkauft haben. Sie mögen gemeinhin keine Steuern und keine Städte — beides Reizwörter, die unter dem Begriff democrats zusammengefaßt werden.
New York, Chicago oder Los Angeles mit ihren Drogenproblemen, Obdachlosigkeit und hoher Kriminalitätsrate liegen für die suburbanites zwar auch in den USA, aber nicht in ihrer Welt. 1960 haben sie noch ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht, heute ist es über die Hälfte. Sie werden am 3. November voraussichtlich zum ersten Mal die Mehrheit der Wähler stellen.
Dieser Stimmen können sich die Republikaner längst nicht mehr so sicher sein wie vor vier Jahren. Denn das große Fressen der obersten fünf Prozent der Einkommensschichten unter Reagan und die ökonomische Talfahrt unter Bush haben die Mittelklasse in Schrecken versetzt und zum Teil in bedrohliche Nähe materieller Not gerückt.
Dennoch — wer als demokratischer Kandidat hier Stimmen holen will, muß zwangsläufig der eigenen, traditionellen Klientel auf die Füße treten. Clinton hat das getan: Er hat Jesse Jackson kühl bis rüde behandelt und damit den konservativen Weißen signalisiert, daß er sich in diesem Wahlkampf um die schwarzen Stimmen nicht sonderlich bemühen wird. Er gibt sich als Verfechter von law and order, wenn er seinen Wahlkampf unterbricht, um in seinem Heimatstaat Hinrichtungsbefehle zu unterzeichnen. Er hat — allem Jubel über den Vormarsch von Frauen in politische Ämter zum Trotz— den Südstaatler Al Gore zu seinem Vizekandidaten ernannt und damit garantiert, daß die höchsten politischen Ämter weiter in vertrauten Händen bleiben: weiß und männlich.
All das läßt vielen Linken inner- und außerhalb der Partei die Haare zu Berge stehen. Aber alle werden sie am 3. November in die Wahlkabine gehen, beide Augen zudrücken und Clinton wählen. Zumal George Bush mit seiner erzkonservativen Agenda den Demokraten genügend politischen Spielraum läßt, um sich zu profilieren: vor allem in der Frage des Schulsystems, der Abtreibung, der Frauenrechte, aber auch der Aids-Politik und der Gesundheitsversorgung — alles Themen, die längst nicht mehr mit dem Stigma „Minderheitenproblem“ behaftet sind.
Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Rolle spielt Clintons Aura: verkörpert er doch nicht nur den von vielen ersehnten Generationenwechsel im Weißen Haus, sondern erinnert viele sehnsüchtig an John F. Kennedy und die mit ihm verbundenen, vermeintlich „harmonischeren“ Zeiten.
Bis zu den Wahlen bleiben noch dreieinhalb Monate. Die letzte Runde beginnt Anfang September. Wenn man Drohungen der Republikaner glauben darf, wird es ein schmutziger Wahlkampf. Die Kaliber, die dann aufgefahren werden, hat man schon zur Genüge kennengelernt. Aber Bill Clinton hat eine reelle Siegeschance. Das hat ihm vor einigen Monaten noch keiner zugetraut — und es ist mehr als 1980 Jimmy Carter, 1984 Walter Mondale und 1988 Mike Dukakis ehrlichen Herzens behaupten konnten. Falls er gewinnt, kann er sich bei seinem israelischen Amtskollegen Jitzhak Rabin Tips für eine Siegesfeier holen. Verliert er, sollte ihm jemand die Telefonnummer von Großbritanniens Neil Kinnock geben. Falls der noch eine hat. Andrea Böhm, New York
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