: Unsere tägliche Lüge gib uns heute
Der „Konflikt“: Über die aktuelle Vermeidung von Realität in der Mediensprache ■ Von Gabriele Mittag
Neulich vor dem Fernseher: Bilder aus Sarajevo. Verkrüppelte, Verstümmelte, Schwerverletzte, Menschen auf der Flucht, die an den Grenzen liegenbleiben. Man möchte das Fenster aufreißen und hinausschreien: Macht die Grenzen auf! Ich bleibe schweigend sitzen und höre die Stimme des Nachrichtensprechers: Bisher hätten die Konfliktparteien noch keine Lösung gefunden. Was für einen „Konflikt“ meint er wohl? Ein gerade elegantes und doch eigenartiges Wort. Konflikte kennen wir ja alle, sie begegen uns täglich, sie bestimmen unseren Alltag. Konflikte mit den Kollegen, mit dem Finanzamt, mit den Verkehrsregeln. Auch mit dem Gesetz kann man ja „in Konflikt“ geraten. Aber in Sarajevo gibt es keinen „Konflikt“. Es ist Krieg. Und es gibt auch keine „Parteien“, sondern Kriegsführende, Armeen, Bombenwerfer und Vergewaltiger, verantwortlich für Hunderttausende von Toten und Flüchtlingen.
Es sind die Medienleute, die einen Konflikt haben, einen Konflikt mit der Sprache. Sie wählen Wörter, die die Wirklichkeit verdecken wie die Alpen den Horizont. Diese scheinbar entemotionalisierende, sachliche Sprache haben sie anderen abgeguckt, dem ungeschriebenen Lexikon der politischen Sprache, die von der Verkürzung, Relativierung oder Verfälschung lebt. Da heißt es zum Beispiel, das Grundgesetz solle „ergänzt“ werden. Unsere tägliche Sprachlüge gib uns heute. Die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit bestehen noch immer darin, sie nicht sagen zu wollen, jedenfalls nicht mit jener Deutlichkeit, die andere aufschrecken könnte. „Änderung des Grundgesetzes“ klingt zu dramatisch, „Einschränkung des Asylrechts“ klingt überhaupt nicht gut. Nein, die Das-Boot- ist-voll-Mentalität muß in sanfte Verdünnungskanäle fließen.
Die Medien sind nicht selten die Handlanger dieser Verdeckungstaktik. Fernseh- und Printmedien-Journalisten unterliegen immer mehr der Gefahr, die Sprache der Politik, von PR-Managern aus der freien Wirtschaft und die Sprache der Pressesprecher zu übernehmen. Wortschöpfungen sind ein Teil dieser Verdeckungssprache, mit der wir täglich konfrontiert sind. Berühmtestes Beispiel: „Abwicklung“. Einmal erfunden, von einem namenlosen hochdotierten Hoflieferanten von Statements, und unters Volk gestreut, ist es aus den Medien, hartnäckig wie ein Leberfleck, nicht mehr wegzukriegen. Welches Elend verbirgt sich hinter der „Abwicklung“ — Altersarmut, Sozialhilfe, Disqualifizierung. Daß das Wort „Abwicklung“ irgendwann wieder zurückbeordert wurde wie ein ungezogenes Kind, ist ein seltener Fall von staatlicher Wörtertilgung durch die Realität. Aus der Zaubertüte wurde ein neues gezogen: Rekonstruktion. Ein Wort, das niemand haben will, weil der ideologische Gehalt zu sichtbar ist. Es gibt noch andere Wörter, die gut klingen und uns frech ins Gesicht lügen. „Gipfeltreffen“. Ab wann ist ein Treffen bitte ein „Gipfeltreffen“ — wenn sich die Reichsten versammeln oder wenn voraussichtlich ganz wichtige Entscheidungen getroffen werden? „Gipfeltreffen“ werden erst dann zu solchen, wenn es Reporter gibt, die ihn besteigen. Ohne Reporter auch kein Gipfeltreffen, denn das Treffen wird erst dann zum Gipfel, wenn die sich Treffenden nicht allein gelassen werden. Denn die Politiker haben einen Konflikt: Sie können ihre ganze Wichtigkeit nur dann zeigen, wenn jemand kommt. Stell dir vor, es gibt einen „Gipfel“, und keiner geht hin. Aber das wäre für die meisten Journalisten sicher ein Konflikt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen