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Der Planet wird teuer bezahlen

■ Jonathan Mann, Leiter der 8. Internationalen Aids-Konferenz, über die Gleichgültigkeit der Staaten im Kampf gegen Aids

Jonathan Mann, ehemaliger Leiter des WHO-Aids-Bekämpfungsprogramms, ist Vorsitzender der 8. Internationalen Aids-Konferenz, die gestern in Amsterdam von der nigerianischen Ärztin Eka Esu-Williams eröffnet wurde. Ihm ist es zu verdanken, daß die WHO 1987 ihr erstes Aids-Bekämpfungsprogramm aufbaute. Sein Rücktritt Anfang 1991 folgte auf schwere Differenzen mit dem neuen WHO-Generalsekretär Hiroshi Nakajima. Seitdem hat die WHO ihr Aids-Budget stark reduziert.

Im Herbst 1991 gründete Jonathan Mann in Boston eine „Global Aids Policy Coalition“ mit dem Ziel, unter Mitwirkung von Forschern und Aktivisten aus aller Welt bis zum September 1992 einen Welt-Aids-Bericht zu erarbeiten.

World Media: Die Prognosen über die Ausbreitung der Aids-Pandemie werden immer pessimistischer. Sie selbst schätzen die Zahl derer, die im Jahr 2000 weltweit kontaminiert sein werden, auf 110 Millionen. Wie kommen Sie auf diese Rekordziffer?

Jonathan Mann: Zuerst einmal gibt es immer einen riesigen Unterschied zwischen der offiziell deklarierten Kontaminationswirklichkeit, die von den Staaten zumeist sehr heruntergespielt wird, und den Schätzungen. Im Jahre 1986 schätzte die WHO die Zahl der damals infizierten Menschen (die HIV-Positiven, die noch nicht erkrankt waren), auf zwischen 5 und 10 Millionen, und ich tippte eher auf 6 Millionen. Damals machten pure Phantasiezahlen die Runde: einige sprachen von 100 Millionen, andere nur von einer Million.

In bezug auf die Zukunft rechnete die WHO im Jahr 1989, es würde im Jahr 2000 30 Millionen Infizierte geben. Meine Forschungsgruppe in Boston hat mit 21 Experten aus verschiedenen Ländern zusammengearbeitet und ist nicht genau an der Zahl angelangt, die Sie nennen, sondern an einer Bandbreite zwischen 38 und 110 Millionen. Das ist etwas ganz anderes. Es ist unmöglich, präzise Angaben zu machen, aber man darf sich auch nicht auf die niedrigste Schätzung beschränken. Am wahrscheinlichsten ist eine Zahl, die zwischen den beiden liegt.

„Aids sucht sich seine Opfer zu 85 Prozent in der Dritten Welt“

Die große Mehrheit der Kontaminierten und der Kranken entstammt den Bevölkerungen der Dritten Welt. Müßte diese Tatsache nicht die Forschungsbemühungen bestimmen?

Bis einschließlich 1990 sind die Aids-Mittel weltweit immer angestiegen, besonders bei der WHO, aber seit 1991 sinken sie rapide, während jeder weiß, daß sich die Situation verschlechtert. Aids sucht sich seine Opfer zu 85 Prozent in der Dritten Welt, während nur fünf Prozent der globalen Aids-Mittel dorthin fließen. Nordamerika gibt pro Person zwei Dollar für den Kampf gegen Aids aus — in der Dritten Welt insgesamt sind es kaum 0,07 Dollar.

Irgendwann wird der Planet diese unannehmbare und bekannte Ungleichheit teuer bezahlen. Sie verdeutlicht nur die Gesamtheit der Ungleichheiten, mit denen Aids verknüpft ist. Der weltweite Kampf gegen Aids wird nicht unabhängig von der Gesamtheit der Umwelt- und Entwicklungsprobleme gewonnen werden. Ja, die konkrete, pragmatische, alltägliche Arbeit, die hier und dort gut und schlecht gemacht wird, die wird weitergehen. Das wird aber überhaupt nicht ausreichen, solange die Gesamtheit der Nord-Süd-Beziehungen ungelöst bleibt.

Was ich da sage, gilt auch für die entwickelten Länder selber, besonders die USA. Man wird die Epidemie nicht besiegen, indem man Broschüren verteilt, Präservative in TV- Werbespots anpreist und Persönlichkeiten zum Reden bringt, wenn das Problem des Rassismus und der Armut, der stark unterschiedlichen Sterblichkeitsraten von Schwarzen und Weißen ungelöst bleibt.

Wird es in der Bereitstellung von Medikamenten, insbesondere von antiviralen Medikamenten für die am meisten betroffenen Länder, wo sie unbekannt sind, und von möglichen Impfstoffen bis zum Jahr 2000 Fortschritte geben?

Hier gibt es nicht die geringsten Fortschritte, da nur entwickelte Länder die Preise bezahlen können. Der Hepatitis-B-Impfstoff, den es in den industrialisierten Ländern seit zehn Jahren gibt, steht in denjenigen Ländern, wo er massiv benötigt wird, erst seit zwei Jahren zur Verfügung. Wenn diese Situation sich mit Aids wiederholen sollte, wäre dies eine Katastrophe. Man muß epidemiologische Kriterien anwenden und klarstellen, daß ein afrikanisches Leben genausoviel wert ist wie ein europäisches.

Aber was auch immer man in dieser Richtung unternimmt — die rein biomedizinische Perspektive des Kampfes gegen Aids ist veraltet und überholt. Die Vernetztheit dieser Pandemie mit der Gesamtheit der sozioökologischen Probleme des Planeten benötigt eine globale Vision.

Da stellen Sie aber sehr hohe Anforderungen.

Sie denken, ich rede zuviel von den großen Fragen, aber ich beharre darauf, daß man von Aids nicht sprechen kann, wenn man sich auf die kleinen Fragen beschränkt. Dieser Virus nutzt die Fundamentalschwächen unserer Gesellschaften aus, die Diskriminierungen, die sie auf der weltweiten wie auch auf der nationalen Ebene hervorbringen. Jede marginalisierte Gesellschaft, jede marginalisierte Gruppe und jedes marginalisierte Individuum, dessen Würde mißachtet wird, ist für Aids anfällig. Behandlung, Forschung, Kampagnen — das ist alles gut, aber man muß darüber hinausgehen.

Kann man das nicht auch von anderen Epidemien sagen?

Keine Epidemie hat die Vernetztheit der Probleme und die Notwendigkeit einer globalen Strategie so deutlich gemacht. Vielleicht liegt das auch an den Bemühungen der letzten zehn Jahre.

Was hat der Kampf gegen Aids denn bis jetzt gebracht?

Zum einen hat er die Verbindung zwischen Gesundheit und Menschenrechten mit einer beispiellosen Intensität verständlich gemacht — zum Beispiel im Feld der Krankenversicherung. Verdeutlicht hat er auch die Vernetztheit der Probleme auf einer Welt, wo Bevölkerungswanderungen noch nie ein solches Ausmaß hatten. Und auch, was entschlossene Menschen ausrichten können, wenn sie den Status quo, Diskriminierung und Gleichgültigkeit ablehnen: Der Kampf gegen Aids erinnert mich an die jungen Chinesen, die sich den Panzern auf dem Tiananmen-Platz entgegenstellten.

„Für Gesundheit noch nie so viele Menschen mobilisiert“

Mit einem Wort: Was am besten war, war die Antwort der Gemeinschaft. Die Pioniere des Kampfes waren vor allem engagierte Gemeinschaften, die sich der Probleme angenommen haben, wie es keine Regierung getan hätte. Und insbesondere die Gemeinschaften der Dritten Welt, die sich zu Dutzenden mobilisiert und eine außergewöhnliche Kreativität an den Tag gelegt haben. Ich denke zum Beispiel an die Informationszentren zur Verhütung, die in Zaire gebildet wurden, besonders in Kinshasa für die Prostituierten. An die Frauen des Taso-Netzwerks in Uganda, geschaffen von der beispielhaften Ärztin Noreine Kaleeba.

Kein Gesundheitsproblem hat in der Dritten Welt je so viele Menschen und Initiativen vor Ort mobilisiert wie Aids. Es ist um so beachtlicher, als die Mittel eher entmutigen. Sie sehen: Ich bin auch Optimist.

Die Reaktion der politisch Verantwortlichen bleibt hingegen lächerlich. Ich bin erschrocken, daß ein Präsidentschaftskandidat in den USA bessere Wahlchancen mit einem Benzinpreisversprechen hat als mit einem mutigen Engagement in bezug auf Aids.

In einigen Ländern hat sich die Ausbreitung von Aids verlangsamt. Ist das nicht auch ein Grund, ein kleines bißchen optimistisch zu sein?

Kein Land kann sich das Recht anmaßen, den Sieg zu verkünden. In den USA werden mindestens eine Million Infizierte geschätzt, aber dieses Jahr prognostiziert man bereits 40.000 bis 80.000 zusätzlich, also eine Zunahme von vier bis acht Prozent — wie kann man da sagen, die Epidemie sei unter Kontrolle, und den Hospitalbudgets Obergrenzen setzen? Im homosexuellen Milieu San Franciscos, wo die Verhütung beachtliche Erfolge aufzuweisen hatte, steigt die Kontaminierung wieder. Vor nicht sehr langer Zeit meinten einige Länder, Aids ignorieren zu können, wie Indien — „Aids ist für die Thailänder, bei uns wird es so was nie geben“, hat mir mal einer gesagt —, und heute wird in Indien offiziell anerkannt, daß über eine Million Inder kontaminiert sind. Die Gleichgültigkeit der Staaten und ihre Tendenz, Wahrheiten zu leugnen, sind zwei der großen Feinde des Kampfes gegen Aids. Interview: Pierre-André Krol

(L'Hebdo/World Media)

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