: „Wir sind doch alle austauschbar“
Furcht vor Entlassung bestimmt den Alltag in einer Miederwarenfirma/ Arbeiterinnen schwanken zwischen Wut und Verzweiflung/ Frauen in einem Freitaler Garnwerk sollen Händlerinnen werden ■ Aus Dresden Detlef Krell
Heute brennt die Luft in der Firma. Nicht genug, daß es früh am Morgen schon wieder drückend ist wie im Gewächshaus, die Frauen im engen Nähsaal hinter ihren Maschinen schwitzen und die Norm noch lange nicht geschafft ist. Die Chefin hat schlechte Laune, denn die Gewerkschaft ist im Haus. „Verpfiffen“ wurde sie von den Kolleginnen, weil sie gesagt haben soll, daß sie den Tariflohn nicht zahlen könne. Nachdem sich die Betriebsrätin solche Reden mehrfach anhören mußte und besorgte Kolleginnen sie bedrängten, schrieb sie einen Brief an die Regionalleitung der Gewerkschaft Textil und Bekleidung. Inzwischen soll der Tarifstreit nur ein „Mißverständnis“ gewesen sein, berichtet die Betriebsrätin der kleinen Runde, die sich im Umkleideraum zur Beratung trifft. So haben sie zwar eine Sorge weniger, doch das Geld stimmt noch immer nicht.
Jede zweite Frau in der kleinen Miederwarenfabrik arbeitet auf Leistung. Keine von ihnen ist neu in diesem Job, dennoch kamen sie seit drei Monaten nicht auf hundert Prozent. Die Normen seien ohne Mitarbeit der Betriebsrätin aufgestellt worden. Die Frauen vermuten, daß eher unternehmerischer Elan als die technologischen Realitäten den Rechenschieber geführt haben.
Seit dreißig Jahren schon arbeitet die Betriebsrätin hier als Näherin. Sie bittet den Reporter, keinesfalls ihren Namen oder den des Betriebes in die Zeitung zu schreiben. Den Frauen sitzt die Angst um ihren Job im Nacken. „Wir machen alle eine Arbeit, die austauschbar ist.“ Sie weiß zwar, daß ihr jetzt nicht gekündigt werden kann, aber das Klima unter dem kleinen Dach nährt Zweifel. Kurzarbeit ist angesagt, und ausgerechnet die Betriebsrätin scheint ein Abo darauf zu haben. Auch an jenem Nachmittag, als im Büro der Chefin die Normen geschrieben wurden, saß sie zu Hause: Trotz Betriebsverfassungsgesetz wurde sie bei der Verteilung der Kurzarbeit bisher nicht gefragt. Eine andere Frau, die in den Betriebsrat gewählt worden war und — wie die Kolleginnen berichten — „immer wieder unsere Forderungen angemeldet hat“, bekam eine Änderungskündigung auf den Tisch. Vom Büro in die Produktion — „zur Bewährung“, wie es früher hieß. Nun will sie mit Hilfe der Gewerkschaft dagegen klagen.
Nicht nur die Sorge um das Geld ist es, was die Frauen zur Wut und Verzweiflung treibt. Zur Arbeit zu gehen, „unter Menschen zu sein“, mit den Kolleginnen zu lachen und zu fluchen — das prägte ihren Alltag. „Wenn Sie nur noch zu Hause sind, stumpfen Sie ab“, sagt die Betriebsrätin nach den ersten Wochen der Kurzarbeit. „Sie haben mit keinem mehr Kontakt, und das bißchen Einkaufen, das befriedigt doch nicht.“ Sie könne für alle Frauen des Betriebs sagen, daß es für sie undenkbar sei, nicht mehr zu arbeiten. Zumindest für die Jüngeren sei es auch kein Problem, nochmal die Schulbank zu drücken und sich umschulen zu lassen. „Man wüßte nur gerne, wozu“, sagt die Betriebsrätin. „Aber wer weiß das schon.“ Ihre Kollegin ist erst seit kurzem hier. Sie hat noch vor der Wende den Entwicklungsbereich aufgebaut. „Auf einmal wird Entwicklung nicht mehr gebraucht“, wundert sie sich. „Und das für ein Sortiment, das so modeabhängig ist.“ Mut habe sie ja, die Chefin: ohne West-Hilfe so einen Betrieb zu übernehmen und alles zu riskieren. Trotz des Ärgers zollen die Frauen ihrer Chefin Respekt. Sie wünschen sich, „gemeinsam die Marktstürme“ zu überleben.
Diese Hoffnung hegten auch die Frauen im Buntgarnwerk Coßmannsdorf, dessen berühmtester Nachbar wohl das Freitaler Edelstahlwerk ist. Als über dem Stahl das Liquidationsurteil schwebte, sperrten Arbeiter und IGMetall das Werktor solange, bis sich Ministerpräsident und Treuhand mit ihnen an einen Tisch setzten. Das Buntgarnwerk dagegen verschied stillschweigend. Dabei sah es gar nicht so krank aus. In den Hallen funkelten neue, moderne Maschinen, und die Coßmannsdorfer Kunstgewebe waren mit der ostsächsischen und osteuropäischen Bekleidungsindustrie verknüpft. „Begrenzt sanierungsfähig“, befand die Treuhand, aber von 75 angeschriebenen Unternehmen wollte keines einsteigen.
Dann legte ein Investor ein Konzept vor, wonach das Garnwerk zu einem Handels- und Gewerbezentrum umgestrickt werden sollte. „Wir fragten alle Kolleginnen“, berichtet Betriebsrätin Sybille Zahn, „und sechzig Prozent sagten zu, sie würden sich umschulen lassen.“ Eine Chance für 250 Beschäftigte, fast alles Frauen. „Es gab auch Tränen bei dem Gedanken, das Alles hier aufzugeben und etwas völlig Neues zu beginnen“, erinnert sich die Betriebsrätin, „aber es war der einzige Ausweg.“
Die Coßmannsdorfer setzten sich wieder an die Schulbank. Doch vor den Erfolg haben die Sachsen ein Regierungspräsidium gesetzt. Das ließ sich mit dem Genehmigungsverfahren Zeit, äußerte diese und jene Bedenken, bis den Frauen der Kragen platzte. Sie blockierten das hohe Haus in der einstigen „Militärakademie Friedrich Engels“ und waren entschlossen, „dem Amtsschimmel Beine zu machen“. Innerhalb von einer Viertelstunde war der Schimmel auf Trab. Sybille Zahn freut sich: „Das wurde auch höchste Zeit.“
Das Handels- und Gewerbezentrum sichert nicht nur den 250 ehemaligen Textilarbeiterinnen einen Arbeitsplatz, sondern auch viele kleine Läden, die noch in ungeklärten Eigentumsverhältnissen vor sich hin wursteln, könnten sich auf dem Gelände des Garnwerkes neu einrichten. Dort kreuzen sich mehrere Bus- und Bahnlinien — ein Lichtblick für die umliegenden Dörfer, in denen die Tante-Emma-Läden längst eingegangen sind. — Für Sybille Zahn, die Textil-Ingenieurin, war es „nicht leicht, meine Arbeit aufzugeben und etwas Neues zu beginnen. Das geht hier allen Frauen so. Aber ich kenne keine einzige, die gesagt hat, sie wolle jetzt Hausfrau werden.“
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