: Am Ende der Welt
■ Unterwegs an Deutschlands Küsten: Heute in Friesland/ Teil 1 einer taz-Sommerserie
Eine Kuh guckt müde vom Deich: Irgendwie muß Deutschland ja anfangen. Auf der grünen Wiese— so weit das Auge reicht — liegt das Asphaltband der Bundesstraße 70. Am Grenzübergang nach Holland weht einsam die deutsche Flagge im steifen Wind, von der Anwesenheit der staatlichen Ordnungskräfte zeugen nur zwei geparkte Dienstautos — eine Kontrolle findet nicht statt. Hier fängt Deutschland ganz unaufdringlich an — nur Kühe und Hagebuttensträucher. An der nächsten Tankstelle stehen Kolonnen von Autos mit niederländischem Kennzeichen Schlange. Deutschland oder Ostfriesland? — Auf der Nebenstraße zieht in satinglänzender Freizeitkleidung eine Gruppe bosselnder Einheimischer vorbei, wobei es sich beim Bosseln um eine Art Boccia auf öffentlichem Straßenland und den ostfriesischen Nationalsport handelt.
„Hier in Emden ist die Welt zu Ende“, sagt die Frau an der Hotelrezeption. Doch die Emder geben sich alle Mühe, diesen Eindruck gar nicht erst entstehen zu lassen. Welche Himmelsrichtung man stadtauswärts auch einschlägt, sofort wird eine Autobahn annonciert. Nur fortgeschrittene Emder wissen, daß es sich dabei um die gleiche handelt, die sich kreisförmig um die Stadt legt. Trotzdem: Vierspurig fährt man nicht ins angebliche Armenhaus Deutschlands, und danach sieht es in der Stadt schon gar nicht aus. Im zweiten Weltkrieg wurde die Stadt arg geschunden, heute stehen überall hübsch verklinkerte Neubauten. Es gibt in der Altstadt eine überdachte Einkaufsstraße und mehr Poller als Einwohner. Die fahren zumeist Fahrrad, obwohl Emdens Reichtum nicht zuletzt auf das Konto von VW geht: Die am Straßenrand geparkten Passats werden gleich hinter dem Hafen gebaut.
Es gibt in Emden zwar kein Meer, nur den Delft, dafür aber jede Menge Kultur. Henri Nannen, der zweitbekannteste Emder, hat seiner Geburtsstadt eine Kunsthalle spendiert, die sich dank unübersehbarer Wegweiser in ganz Ostfriesland zu einem Touristenmagneten entwickelt hat, zumindest für kinderlose Urlauber. Junge Familien bleiben dagegen schon im Museum des berühmtesten Emder mitten in der Stadt hängen. Im Otto-Huus gibt es Otto total: Ganz oben laufen Otto-Filme, in der Mitte erfährt man zu Otto-Schallplatten alles über den Blödelstar, im Erdgeschoß kann man Ottifanten auf Handtüchern oder Hauslatschen kaufen. Otto präsentiert sich als Klein-Henri mit Drang zum Höheren: Vor sein Geburtshaus in der Vorstadt hat er eine bronzene Ottifanten-Skulptur stellen lassen.
Kunst überall: Am Neumarkt parkt ein Trabi, der mit Plastikgemüse auf dem Dach für ein griechisches Restaurant wirbt. Doch ansonsten hat der Osten in Ostfriesland keine Konjunktur. Die Mitfahrzentrale klagt über Umsatzeinbußen: Nach Berlin will seit dem Fall der Mauer niemand mehr aus Emden, dem Ende der Welt. Lutz Ehrlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen