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Der Seniorenclub für die Volkssolidarität

Überwiegend Ältere gründeten in Dresden das örtliche „Komitee für Gerechtigkeit“/ Sie wollen nicht länger die „Faulen, Dummen, Blöden“ sein/ Die Stimmung geht gegen eine neue Partei: „Die Parteien von rechts und links sind am Ende“  ■ Aus Dresden B. Markmeyer

Da sitzen sie, den Blick fest nach vorn gerichtet. Eine halbe Stunde vor der Veranstaltung ist kein Platz mehr frei. Niemand ist jünger als 45. Die Leute sind nicht gekommen, um einen Vortrag über Bluthochdruck zu hören, sie wollen heute abend hier in Dresden, in den Räumen des Seniorenclubs zwischen den Hochhäusern an der Comeniusstraße, ein Komitee für Gerechtigkeit gründen. Der Ort ist Zufall, aber ein passender.

Die Versammlung wird wegen Überfüllung aus dem stickigen Raum auf die Wiese verlegt. Etwa 300 Leute sind da, drei Ältere kommen auf einen Jüngeren. Es sind die, denen es schlechter geht. „Und die Jugendlichen kenne ich fast alle“, sagt der 25jährige Moderator des Abends, Heiko Hilker. Das sind die, die immer was tun. Hilker kommt vom Freundeskreis DT 64 und erhofft sich, daß der Ost-Protest vom Mietenstopp bis zur Radioinitiative in der neuen Sammlungsbewegung zusammenfindet. Auf keinen Fall will er eine neue Partei oder ein Komitee mit parteiähnlichen Strukturen.

Von der Wiese aus ist auf dem Flachdachbau das Emblem der abgewickelten Volkssolidarität zu erkennen, und ihr Slogan: „Miteinander — füreinander“. Noch so ein passender Zufall. Vor dem Rathaus stehe die Trümmerfrau, wird wenig später ein graugelockter Dicker ausrufen, um daran zu erinnern, wer Dresden wiederaufgebaut habe: „Unsere Landesmutter aber hat sich vor 40 Jahren abgeseilt mit ihrem Alten. Und jetzt ist sie wieder da. Welch eine Demütigung für uns!“ Das trifft die Stimmung.

Hans-Jürgen Burkhardt greift zum Mikrophon. Die Gründung des ersten deutschen Komitees für Gerechtigkeit hat begonnen: pünktlich auf die Minute um halb acht am vergangenen Freitag. Burkhardt ist Hausmeister und Mitglied der PDS. Gemeinsam mit der PDS-Stadtvorsitzenden Christine Ostrowski und sechs anderen DresdenerInnen hat er zu diesem Treffen aufgerufen. Keine Prominenten gaben ihre Namen, ein Drogist ist dabei, ein Pfarrer im Ruhestand, der Vorsitzende der Dresdener Gartenfreunde. Als erstes plädiert Burkhardt für „Offenheit“.

Denn natürlich hat es im Vorfeld böses Blut gegeben und den Vorwurf, die Dresdener Komiteegründung sei eine PDS-Veranstaltung. Die PDS ist nicht unbedeutend in der Stadt, mit knapp 16 Prozent wurde sie zweitstärkste Fraktion im Rathaus. PDS-Leute wie Burkhardt machen in diversen Vereinen Renten-, Sozialhilfe- und Wohngeldberatung. Das stärkste Stück der Partei ist das Bürgerbegehren für Mietenstopp. Obwohl mit 57.000 Unterschriften mehr als die erforderlichen 10 Prozent für die Durchführungen eines Bürgerentscheids zusammenkamen, weigert sich die Stadt aus formalen Gründen, den Entscheid vorzubereiten. „Das größte Hindernis“, hält Christine Ostrowski dagegen, „ist unsere PDS-Mitgliedschaft.“ Selbstverständlich habe sie nicht als PDS-Vorsitzende zur Komiteegründung aufgerufen: „Ich will einfach mit Leuten arbeiten, die was machen, die Zivilcourage haben“, wenn's sein muß — aber das Wort geht ihr kaum über die Lippen — bis zum „zivilen Ungehorsam“. Die eigene Partei ist der Frau, deren Kandidatur für den PDS-Bundesvorstand von der Betonfraktion verhindert wurde, zu lahm: „Wir haben zu viele von den Alten.“

Einstweilen sieht es auf der Wiese vor der Volkssolidarität aber so aus, als könne Ostrowski ihrem Milieu nicht entkommen. Als erster liest ein alter Mann zitternd vom Blatt, daß er „gemeinsam mit dem neuen Komitee für Gerechtigkeit“ dafür kämpfen will, „daß unsere Enkel in Frieden leben können“. Ein anderer empört sich, daß der Datenschutz „mit Füßen getreten wird“, wo Listen mit ehemaligen Stasi-Angehörigen veröffentlicht werden. Und der übernächste zum Reizthema Inoffizielle Mitarbeiter: „Hätte man die IMs in der Ganovenszene gelassen, hätten wir heute 60 Prozent weniger Kriminalität.“ Entschiedener Beifall.

Bonn, das ist hier in Dresden nichts als Lobbyismus und fette Diäten. Aber auch „das Kasperltheater jeden Donnerstag im Landtag ist unerträglich“. „Die Parteien von rechts bis links sind am Ende“, erklärt der PDS-Mann Burkhardt. Daß Biedenkopf seine Regierung zum sächsischen Komitee für Gerechtigkeit erklärt hat, quittieren die KomiteegründerInnen mit Buhrufen. Aber ebenso haben sie es auf die Bürgerbewegung der Wendezeit abgesehen, aufs Bündnis 90: „Die beschäftigen sich doch nur noch mit der Vergangenheit — Stasi hoch und runter.“ Jetzt müsse es um die Gegenwart gehen. Um „Gerechtigkeit“ im Alltag, bei den Problemen vor der Haustür: Mieten, Rente, Arbeitslosigkeit, Löhne. Schluß mit den Demütigungen, den Pauschalverurteilungen — „Volkssolidarität“, sagt einer, der sich als Unternehmensberater in der Baubranche selbständig gemacht hat: „Volkssolidarität“.

Es dauert ein wenig, bis andere Töne angeschlagen werden. „Mein Konsum geht auch dahin, für den ich 40 Jahre gearbeitet hab', mit Leidenschaft“, empört sich eine Frau. „Nur ein Drittel der Einkommen erarbeiten wir noch selbst! Wir sind doch“, ruft sie, „nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten!“ „Wir haben es nicht nötig, uns sagen zu lassen“, meint eine andere, „daß wir 40 Jahre faul gewesen sind.“ Jetzt geht auch Christine Ostrowski ans Mikrophon, feuert die Versammlung an, daß „wir uns erheben müssen und nicht bücken“, und bittet das entstehende Komitee — natürlich —, sich dafür einzusetzen, daß der Bürgerentscheid zum Mietenstopp zustande kommt. Den unvermeidlichen Chaoten solcher Zusammenkünfte mimt ein Fotograf, der eine Änderung des Grundgesetzartikels 3 fordert in: „Westlöhne in ganz Deutschland“.

Gelacht aber wird wenig. Die Leute sind randvoll mit Bitterkeit, ihre Stimmung ist weniger resignativ denn gereizt. Jetzt wollen sie ihr „Schicksal in die eigenen Hände nehmen“, „Druck machen“, „die Politiker kontrollieren“, nicht länger die „Faulen, Dummen, Blöden“ sein. „Aber wie“, fragt einer, „wie wollen wir an die Politiker herankommen?“ und bekommt keine Antwort.

Eindeutig ist die Stimmung gegen eine neue Partei. Nicht einmal an die Komiteegründung will man so richtig ran, wählt kein Gremium. Die Versammlung folgt Hilkers und Ostrowskis Vorschlag, Arbeitsgruppen zu gründen. Das erste deutsche Komitee für Gerechtigkeit ist damit eine große Dresdener Bürgerinitiative, gegründet, so Ostrowski, „indem wir einfach anfangen zu arbeiten“. Auf Tischen liegen Listen aus, viele sind unschlüssig, ob und wo sie sich eintragen sollen. Es ging doch etwas schnell. Drei Unterschriften für „Kontrolle der Stadtverwaltung“, neun bei „Soziales“, 14 für die „AG Mietenstopp“. Aber wiederkommen wollen die meisten am nächsten Freitag um halb acht.

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