: Der alte Mann und der Jazz
■ Hal Russell vertonte mit dem NRG Ensemble seine Lebensgeschichte
Je oller je doller scheint das Credo des 65 — jährigen Hal Russell zu sein. Die NRG (sprich Energy) mit der er und sein Ensemble am Montag abend zu einer aufregenden, witzigen Attacke auf die Hörgewohnheiten der Jazzliebhaber bliesen, ließ den weißhaarigen Herrn mit Schlips und Kragen als strahlenden Helden der „Hal Russell Story“ erscheinen.
Mit einer über einstündigen Suite in sechs Teilen, deren jeder einer Dekade im Leben Russells entspricht, präsentierte er seine subversive, laute und überbordende Autobiographie in Tönen. Auf Trompete, Saxophon, Schlagzeug und Vibraphon, aber auch mit einem Megaphon, durch das er dem Publikum kurze Textzeilen an den Kopf warf: „Come on kiddy, improvise“ zu den gequälten Katzen in seiner Kindheit, oder „Free at last“ zu seiner Entdeckung der freien Improvisation. Kinderlieder, Swingarrangements und Zitate aus Bebopklassikern tauchten kurz auf, dazwischen wilde Klangeruptionen und Hommagen an die Musiker, mit denen er in den 50er und 60er Jahren zusammenspielte.
Russell hat eine Vorliebe für Doppelungen: Jedes Mitglied des Quintetts spielt wie er mehrere Instrumente, und so sind oft zwei Trompeten, zwei Saxophone oder zwei akustische Bässe gegeneinandergesetzt.
Russells Saxophonkollege Mars Williams ist der Bühnenclown der Gruppe: mit Cowboyhut, langen Haaren und zuckenden Tanzbewegungen gibt er optisch einen Kontrast zu Russell, den kein Regisseur wirkungsvoller hätte arrangieren können. Alle Mitglieder der Band haben einen eigenen, sehr energischen Ton zwischen Free Jazz und Rock, zwischen Stockhausen und Braxton, aber offensichtlich ist es Russells Kraft und musikalische Vision, die diese Band so aufregend klingen läßt.
Im zweiten Set spielte die Band kurze Kompositionen, meist mit mehr Betonung auf die Improvisationen, deren Einsätze Russell mit knappen Fingerzeigen dirigierte. Lachen konnte man noch über einen coolen Russell mit Sonnenbrille und eine reine Burleske mit dem Titel „Tastes like chicken“. Als Zugabe wurde dann sogar noch „Oh, Well“ von Fleetwood Mac virtous durch den Kakao gezogen. Im direkten Vergleich ist Hal Russell allemal ein Newcomer. Willy Taub
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