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Seelenschichten freigelegt

Ist Hitlers Bunkeranlage am Potsdamer Platz historisch bedeutsam?/ Berlins Archäologiechef will sie denkmalschützen und für Besucher öffnen/ Jüdische Gemeinde hält dagegen: „Das würde zum Wallfahrtsort für Nazis“  ■ VON SEVERIN WEILAND

In unmittelbarer Nähe des Potsdamer Platzes erhebt sich ein kleiner Hügel. Ein Hügel, der anderswo keine Beachtung finden würde. Läge er nicht mitten auf jenem Terrain an der Voßstraße, wo einst die „Neue Reichskanzlei“ des Dritten Reiches ihren Sitz hatte. An jedem Wochenende, wenn Reisebusse die Touristen in Scharen ausspucken, wird die Erhebung von Menschentrauben belagert. Nicht, weil von hier aus die umliegende Ödnis des einstigen Regierungszentrums besser zu überblicken wäre als zu ebener Erde. Die angereisten Deutschen, Amerikaner, Engländer und Niederländer fachsimpeln vielmehr darüber, wo er denn nun war, der legendäre „Führerbunker“. Jener Ort also, in dem Adolf Hitler und Eva Braun ihre letzten Tage verbrachten, bevor sie Ende April 1945 Selbstmord begingen.

Wenige stört es, daß unter dem Hügel nicht der Führerbunker, sondern der Eingang zu den weit verzweigten Schutzräumen unter der ehemaligen Neuen Reichskanzlei liegt. Was sie interessiert, ist der Mythos des Ortes, aus dem findige Händler inzwischen ein einträgliches Geschäft machen und dubioses Material über das einstige Zentrum der NS-Herrschaft anbieten.

Windige Geschäfte mit dubiosem Mythos

Daß die Bunkeranlage in diesem Sommer zu einem Thema weit über Berlin hinaus geworden ist, verdankt sie Alfred Kernd'l, dem wissenschaftlichen Direktor am Archäologischen Landesamt in Berlin. Der 63jährige schreckte jüngst die Öffentlichkeit mit der Ankündigung, zwei Bunker zwischen Voß-, Otto- Grotewohl- und Ebertstraße unter Denkmalschutz zu stellen.

Die ehemaligen Bunker — Teile eines weitläufigen und zum Großteil noch unerforschten Labyrinths — schlummerten jahrzehntelang einen Dornröschenschlaf. Erst der Fall der Mauer ermöglichte den Zugang zum einstigen Regierungsgelände, das bis dahin im Bereich des Todesstreifens gelegen hatte. Schon im März 1990, bei einer deutsch-deutschen Baumpflanzungsaktion, wurde der Luftschutzbunker unter der Neuen Reichkanzlei für kurze Zeit geöffnet. Angeregt durch Presseberichte drangen Jugendliche in die Räume ein und hinterließen neonazistische Graffiti an den kahlen Wänden: SS-Runen, Sieg-Heil-Schmierereien, Hakenkreuze. Die Ostberliner Verwaltung ließ daraufhin den Eingang wieder unter Erdmassen begraben. Doch bereits wenige Monate später, im Juni desselben Jahres, kam die Mitte Berlins erneut in die Schlagzeilen: NVA-Soldaten stießen bei Räumungsarbeiten für das „The Wall“- Spektakel der Popgruppe Pink Floyd auf einen bisher nicht bekannten Fahrerbunker der SS-Leibstandarte „Adolf Hitler“. Im Inneren der 10 mal 30 Meter großen, eingeschossigen Anlage wurden unter anderem kitschige Wandgemälde entdeckt: SS-Soldaten, die mit ausgestreckten Schildern deutsches Land, deutsche Männer und deutsche Frauen schützen, sowie Adler, Eichenlaub und gotische Initialien der Leibstandarte. Im Schlamm fanden sich außer Waffen auch Sterling-Tafelsilber, Möbel und Porzellangeschirr aus königlich- preußischer Manufaktur.

Kernd'l ist von der Idee begeistert, „die letzten faßbaren topographischen Fixpunkte“ auf dem Gelände der früheren Ministergärten zu sichern. Dabei kann er sich auf einen einstimmigen Beschluß des Berliner Abgeordnetenhauses berufen; der Antrag stammte aus der Feder der Fraktion Bündnis 90/Grüne. Darin wird der Senat aufgefordert, eine Dokumentation über die Topographie des Geländes der ehemaligen Reichskanzlei zu erstellen. Der Hintergedanke, den die grünen Politiker bei der Formulierung hegten, ist offenkundig: Dem übereilten Bauen in Berlins Mitte einen Riegel vorschieben. Denn die einst historische Stätte wird angesichts der Hauptstadtplanung in naher Zukunft ein völlig neues Gesicht erhalten. Ob aber, wie vom Senat bevorzugt, hier in Zukunft Ländervertretungen in „locker bebautem Abstand“ oder Bundesministerien ihren Platz finden, ist noch völlig offen.

Führer-Marmor wird zum Sowjet-Ehrenmal

Heute ist die unbebaute Fläche zwischen dem Tiergarten-Wald und den Wohnblöcken an der Otto-Grotewohl-Straße eine klaffende Wunde. Einst befanden sich hier die „Ministergärten“, vor rund zweihundertfünfzig Jahren angelegt. Heute existieren sie nur noch als historischer Begriff in den Köpfen geschichtsbewußter Zeitgenossen. Wo das Zentrum des Deutschen Reiches mit seiner 1875 gebauten Reichskanzlei lag, wo Hitlers Hofarchitekt Albert Speer ab 1937 die Neue Reichskanzlei als gigantomanisches Symbol der NS-Herrschaft errichten ließ, wirbelt jetzt Wind Staub auf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges machten sich zunächst die Sowjets und später die DDR daran, die Überreste preußischer und nazistischer Herrschaft zu tilgen. Anfang 1949 begannen die Sowjets, die Neue Reichskanzlei zu sprengen. Ein Großteil des Marmors fand beim Bau des sowjetischen Ehrenmals im Ostberliner Stadtteil Treptow Verwendung, ebenso in der U-Bahn-Station Mohrenstraße. Im August 1950 war Hitlers Amtssitz eingeebnet. Was blieb, waren die unterirdischen Anlagen. Erstmals versuchte sich die DDR 1959 am Führerbunker, doch nur der Eingang und Teile der Decke fielen dem Dynamit zum Opfer; der bis zu drei Meter dicke Beton erwies sich als harter Brocken. 1988, im Zusammenhang mit den Neubauten an der Otto-Grotewohl-Straße, wurden schließlich weitere Teile entfernt. Heute ziert ein Spielplatz den Bereich, unter dem Hitlers Bunkeranlage lagert.

Kernd'ls Vorpreschen wäre wohl nicht auf ein solches Echo gestoßen, hätte er damit nicht eine zweite Überlegung ins Spiel gebracht: die Bunker der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Während sich der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus- Rüdiger Landowsky mit einem zackigen „Zuschütten!“ zu Wort meldete, gab die Jüdische Gemeinde zu bedenken, daß ein zugänglicher Bunker schnell zu einem „Wallfahrtsort für alte und neue Neonazis“ würde. Zudem wäre er eine „dauernde Irritation und Beleidigung“ für die Opfer des Nationalsozialismus und ihrer Nachkommen. Kernd'l fühlt sich mißverstanden. Schließlich habe er vor Jahren die Ausgrabungsgenehmigung auf dem ehemaligen Gestapo-Gelände verfügt, dem Sitz der heutigen Ausstellung „Topographie des Terrors“. Die Öffnung der Bunker ist für Kernd'l, der nach eigenem Bekunden mit seiner Arbeit „Seelenschichten der deutschen Geschichte freilegt“, ein Weg, um der Mythen- und Legendenbildung an diesem Ort zu begegnen. Ihm schwebt unter anderem eine Ausstellung der gefundenen Exponate und SS-Wandgemälde vor. Denn, so Kernd'l, die belegten „ebenso treffend wie authentisch das Denken der Prätorianer (Angehörige der Leibwache römischer Feldherren oder Kaiser; d. Red.) und ihrer Zeit“. Der Gefahr, daß sich Besucher am Ort berauschen könnten, sieht er gelassen entgegen: „Das muß eine Demokratie aushalten können.“

Berlins parteiloser Kultursenator, Ulrich Roloff-Momin versuchte mit einem Spagat, den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er begrüßte Kernd'ls Entschluß, die Bunker unter Denkmalschutz zu stellen, „damit Optionen für künftige Überlegungen offengehalten werden“. Im gleichen Atemzug verschob er die Frage über die Verwendung der Bunker auf einen späteren Zeitpunkt. Darüber solle erst nach einer öffentlichen Auseinandersetzung entschieden werden.

„Ein Grusel-Ort der NS-Geschichte“

Immerhin hat Kernd'ls Vorstoß schon jetzt eine Diskussion über jenen Ort belebt, um den wie um keinen anderen Legenden gestrickt wurden. Der Verein „Aktives Museum Faschismus und Widerstand“ will den SS-Bunkern zwar keine „oberste Priorität“ einräumen. Doch auch er warnt davor, sich vor einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an jenen Orten zu drücken, „von denen eine gewisse Faszination des NS- Systems auszugehen scheint“. Insgeheim wird eine Öffnung schon einkalkuliert. In diesem Fall plädiert der Verein für die Integration der Bunker in die Stiftung „Topographie des Terrors“, verbunden mit Aufklärungs- und Bildungsarbeit.

Die Stiftung selbst hält sich bisher mit Äußerungen zurück. Andreas Sander, einer der drei wissenschaftlichen Mitarbeiter, hat persönlich jedoch seine Zweifel, ob der Bunker der geeignete Ort für eine Dokumentation ist. Die Erfahrung mit Besuchergruppen, die das ehemalige Gestapo-Gelände besuchen und sich dabei von der Faszination eines Folterortes leiten lassen, stimmen ihn wenig hoffnungsvoll: „Ich befürchte eher, daß es ein Grusel-Ort der NS- Geschichte und weniger ein Ort der Aufklärung sein wird.“ Was, fragt Sander, solle mit Besteck und handgeschnitzten SS-Möbeln gezeigt werden, was mit den Fresken? „Ich müßte mit einer Dokumentation gegen diesen Ort arbeiten; aber der Mythos des Führerbunkers wurde alles andere als totgeschlagen.“ Sander macht zudem historische Bedenken geltend. Die NS-Herrschaft habe ihren symbolischen Ort in der Neuen Reichskanzlei gefunden und nicht in den „kriegsbedingten Resten des Bunkers“. Er ist unschlüssig, was mit den Bunkeranlagen geschehen soll. Es sei eine „Gratwanderung zwischen Nicht-Verstecken und Nicht-Verschütten dieser Spuren, aber: Wie stelle ich mich ihnen?“

Die Antwort fällt um so schwerer, weil in umittelbarer Nähe der Bunker ein Mahnmal für die ermordeten Juden aus 17 Ländern Europas entstehen soll. Also doch Abreißen? Historiker wie Wolfgang Benz von der Technischen Universität (TU) Berlin (siehe auch Interview auf dieser Seite) tun sich schwer mit solchen Forderungen. Schließlich, so Benz, seien auch die Bunker „materielle Dokumente“ der NS-Geschichte, die „ohne Not“ nicht abgerissen werden dürften. Wie also mit Mahnmal und Bunker umgehen? Benz hat einen beschränkten Zugang für historisch Interessierte ins Gespräch gebracht. Ein Vorschlag, dem sich Joachim Braun, dem Vorsitzenden des „Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas“, anschließen kann. Zusammen mit der Leiterin des NDR- Hannover, Lea Rosh, setzt er sich seit Jahren für ein Mahnmal im ehemaligen Regierungsviertel ein. Seit die Bundesregierung Mitte Juli ihren Entschluß bekräftigte, das Mahnmal zu errichten, ist die Frage, was mit dem Bunker geschehen soll, nicht mehr nur theoretisch.

Eine Debatte steht also an, die weit über den Sommer dieses Jahres hinaus laufen wird. In ihr werden historische und moralische Argumente nur schwerlich zu trennen sein. Für Joachim Braun steht schon jetzt fest, daß ein öffentlich zugänglicher Bunker und das Mahnmal für die ermordeten Juden nicht nebeneinander stehen können: „Ich werde mich leidenschaftlich dagegen wehren, sollte am Ort der Täter ein Zwillingsdenkmal entstehen: sozusagen ein Ort, an dem man sich historisch wohl fühlt.“

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