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Hilbers Traum

■ Über die Spätfolgen der Wienerprozesse: Neuer Bremer Drogen-Roman

Hilber ist kein Held. Eher einer wie du und ich, Beruf: Operator. „Selbstadjungierter Operator“, wie Hilber immer wieder stolz betont. Er ist einer der letzten Überlebenden der berüchtigten „Wienerprozesse“.

In ihrem Debutroman „Lyapunovexponenten blockstrukturierter zufälliger Systeme im Hilber- Traum l2“ markiert die junge Bremer Nachwuchsautorin Ina Lindemann schon mit dem Titel ihren literarischen Standort: Sie bekennt sich zum poststrukturalistischen Diskurs (Schaumlöffel/ Goldsheid), der auch in Bremen wortgewaltige Anhänger hat.

Zeichen, Verschlüsselungen, eingeschobene Strukturanalysen und Blockdiskussionen: die Story ist nicht leicht zu erkennen. Hilber, in einer psychisch ausweglosen Lage, hat einen Traum: den Traum vom weißen Rauschen. So nennt er einen von ihm als Paradies halluzinierten Zustand, in den er sich mit Hilfe einer Droge versetzen möchte: Lyapunov. Doch der Weg zur Droge ist lang und gefährlich, und vor der nichttrivialen Lösung liegt eine unheimliche Alternative, vor die ihn ein dubioser Fred Holm stellt.

Der Roman ist, ganz Zeitgeist, weder stringent noch eindimensional-dramatisch; Einheit von Ort, Zeit und Handlung wird krass konterkariert, und das komplette Fehlen eines konventionellen Schlusses (geschweige denn Happy Ends) zeigt nur eines: Frau Lindemann beugt sich riskant weit aus dem Fenster — der Absturz in neo-poststrukturalistische Untiefen scheint vorprogrammiert. Gegen die bornierte Kritik des deutschsprachigen Rezensionswesens, man denke an die Ausfälle von Arnold, muß man die junge Autorin indes in Schutz nehmen: Ihr mutiges Eintreten für die Legalisierung von Lyapunov verdient Respekt.

Man liest den Roman nicht in einer Nacht und nicht am Strand. Eher auf Bergesgipfeln oder in Polarstationen. Schafft man es, innerlich leer zu werden, beginnen die zahllosen Chiffren und eigentümlichen Zeichen, mit denen die Autorin das Text-Kontinuum destruiert, zu sprechen und die Geschichte (und unser Bewußtsein) um Dimensionen zu erweitern. Im besten Sinne ein neues Stück Drogenliteratur, das wir übrigens als Buchobjekt unbedingt dem Neuen Museum Weserburg empfehlen wollen. Bus

Ina Lindemann: Lyapunovexponenten blockstrukturierter zufälliger Systeme im Hilbertraum l2, Selbstverlag, Bremen 1992, 112 S., 1 Ill.

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