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Wenn die Seele streikt

■ Der Roman „Niemandsland“ von Wolfgang Bittner

Gesellschaftskritische Literatur entsteht nicht aus Lust an dieser Gattung. Sie entsteht zwangsläufig, wenn die Sinne der Menschen verletzt werden, zum Beispiel der Gerechtigkeitssinn. Es kann der Vernunft nicht unentwegt ins Gesicht geschlagen werden, ohne daß denkende Menschen darunter leiden und Schriftsteller dieses Leiden artikulieren. „Von Zeit zu Zeit setzt sich in meinem Kopf der Gedanke fest, daß die Welt der Phantasie die tatsächliche, jedenfalls zu bevorzugende sei, während die sogenannte Realität mir höchst unwirklich erscheint und mich manchmal geradezu anwidert“, schreibt Wolfgang Bittner.

Dabei geht es ihm nicht um einen Fluchtversuch, sondern um einen Bewußtwerdungsprozeß: „Nachdenkend aber, wie wir heute leben, wie wir dahin gekommen sind, was unser latentes Unwohlsein ausmacht und die zeitweisen Glücksmomente in Frage stellt.“

„Niemandsland“ ist das literarische Protokoll eines Menschen, der sein ganzes 45jähriges Leben eigentlich nur gelitten hat. Nun beginnt seine Seele zu streiken. Der Ich-Erzähler in Wolfgang Bittners Roman, Universitätsdozent in äußerlich geordneten Verhältnissen, bemerkt erschrocken, daß es ihm immer schwerer fällt, in gewohnter Weise zu funktionieren. Schreibend versucht er, die Ursachen seines Leidens aufzuspüren, in seiner Vergangenheit, vor allem der Kindheit ebenso wie in der Gegenwart.

Wolfgang Bittner, der 1978 und 1980 als Autor der Romane „Der Aufsteiger“ und „Bis an die Grenze“ bekannt wurde und von dem seither mehrere Kinder- und Jugendbücher erschienen sind, verarbeitet in seinem neuen Roman autobiographische Erfahrungen: die Flucht aus Schlesien, das Leben in einem Barackenlager in Ostfriesland, das Studium zur Zeit der Studentenbewegung, die etwas stickige Atmosphäre in einer westdeutschen Universitätsstadt... Nach und nach entsteht ein kunstvolles Gewebe aus Geschichten, Reflexionen und Rückblicken, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten der Lebensbewältigung und des Scheiterns.

Bittners Sprache ist äußerst dicht. Genau und einfühlsam erzählt er die Geschichte einer persönlichen Depression und spiegelt zugleich die geistig-seelische Befindlichkeit einer ganzen Generation.

Im Zentrum des Buches steht die Erkenntnis, daß die Grenze zwischen humanem und menschenverachtendem Verhalten von unserem Gewissen sehr deutlich gezogen wird. Daran hat diese Gesellschaft des Oberflächenstylings, des Liftens, Weglügens und Vergessens bisher nichts grundlegendes geändert. Wolfgang Bittner hat sich den Blick des Zugereisten, des Außenstehenden auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse bewahrt, sein Buch ist als Kommentar zur Geschichte der alten Bundesrepublik aufzufassen, vielleicht sogar als literarischer Schlußpunkt. Renate Schoof

Wolfgang Bittner: „Niemandsland“. Forum Verlag, Leipzig 1992, 288Seiten, 34DM.

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